Der Grüne Spagat: Künast kritisiert SPD und will Grün-Rot
100 Tage vor der Wahl lässt die grüne Spitzenkandidatin kein gutes Haar am rot-roten Senat. Und verkündet, dass sie regieren will - mit den Sozialdemokraten. Grün-Schwarz bleibt aber als Drohpotenzial.
Eins ist Renate Künast dann doch ganz wichtig. Damit es da keine Missverständnisse gibt, eilt sie gleich nach dem Ende der Pressekonferenz noch mal zu den vor sich hin rätselnden Journalisten. "Sie haben schon verstanden, dass ich nichts ausgeschlossen habe?", fragt die Spitzenkandidatin der Grünen. Eine Koalition ihrer Partei mit der CDU bleibt also möglich. Theoretisch. Schon als Drohpotenzial. Damit sie sich bei Koalitionsverhandlungen mit der SPD nicht über den Tisch ziehen lassen müsse, sagt Künast. Denn nichts will sie lieber, als genau das: Koalitionsverhandlungen mit der SPD. Das hatte sie zuvor bei der Pressekonferenz erklärt: "Ich sehe die beste Basis in einer grün-roten Koalition - dafür trete ich ein."
Exakt 100 Tage vor der Abgeordnetenhauswahl hatten die Grünen ins Chamäleon-Varieté am Hackeschen Markt eingeladen. Künast nutze den Showsaal zunächst für eine böse Abrechnung mit dem rot-roten Senat. Der sei "verbraucht und ausgelaugt". Die Koalition habe in zehn Jahren viel versprochen, aber nichts getan. Zwar habe sich Berlin in dieser Zeit atemberaubend entwickelt, meint die Grüne. Allerdings nicht wegen, sondern trotz des rot-roten Senats.
Umgekehrt schob sie in bester Wahlkämpfermanier SPD und Linkspartei alles Schlechte in die Schuhe: etwa die "horrende Arbeitslosigkeit", den größten Ausgabenanstieg seit den 90er-Jahren, das Fehlen eines Klimaschutzgesetzes und die rasant steigenden Mieten. Zwar liegt die Arbeitslosenquote selbst in Berlin niedriger als noch bei Amtsantritt der Koalition vor neun Jahren. Und Ursache des kräftigen Wiederanstiegs der Landesausgaben ist die Weltwirtschaftskrise - die hätte selbst ein vollkommen unfähiger Senat nicht allein auslösen können. Aber im Wahlkampf gehört Über-das-Ziel-Hinausschießen ja fast schon zum guten Ton. Vor allem, wenn die eigenen Chancen gerade wieder sinken.
Die beiden führenden Umfrageinstitute Forsa und infratest dimap hatten die Grünen zuletzt wieder 4 bis 5 Prozentpunkte hinter der SPD gesehen. Vor ein, zwei Monaten lagen beide noch gleichauf. Laut infratest sind die Grünen vor allem im Ostteil Berlins abgerutscht. Die Vermutung, dass sie mit ihrem neuen Statement potenziellen Grünen-Wählern die Angst vor einer Koalition mit der CDU nehmen wolle, wies Künast zwar zurück, letztlich gehe es bei Koalitionen aber immer um Inhalte. Aber da, betonte sie nochmals, sehe sie die besten Chancen in einer Koalition mit den Sozialdemokraten.
CDU und SPD reagierten verhalten auf Künasts Worte. CDU-Spitzenkandidat Frank Henkel warf ihr ein "nervöses Hin und Her" vor. Es erhöhe ihre Chancen nicht, wenn sie "der abgewirtschafteten SPD zur Mehrheit verhelfe". SPD-Landeschef Michael Müller hingegen meinte, Künast reagiere offenkundig auf innerparteilichen Widerstand gegen Grün-Schwarz. "Ob das nun wirklich eine tragfähige Positionierung ist, weiß ich nicht."
Vor allem muss sich zeigen, ob sich Künasts Spagat als tragfähig erweist. Um den Amtsinhaber Klaus Wowereit noch zu schlagen, muss sie ihren erkorenen künftigen Partner frontal angehen. Eine Position, die Künast gar nicht mag. "Spagat ist eine Grundhaltung, aber so kommen Sie nicht fort", hatte sie noch am Dienstag bei einer Veranstaltung in der Urania gesagt.
Eins aber dürfte sicher sein. Die Vermutung, dass Künast mit dem halben Verzicht auf eine Zusammenarbeit mit der CDU innerlich schon ihren Anspruch aufs Rote Rathaus aufgegeben hat, ist falsch. Noch am Dienstag hatte Künast gesagt: Je länger sie sich mit Berlin beschäftige, desto mehr Lust habe sie bekommen, das Amt tatsächlich auszufüllen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier des FInanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
VW in der Krise
Schlicht nicht wettbewerbsfähig
Mögliche Neuwahlen in Deutschland
Nur Trump kann noch helfen
Kränkelnde Wirtschaft
Gegen die Stagnation gibt es schlechte und gute Therapien
Kritik an Antisemitismus-Resolution
So kann man Antisemitismus nicht bekämpfen
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution