Kommentar Ägypten: Ägyptische Beharrlichkeit
Die Geburt der neuen arabischen Welt ist eine schwierige. Doch dank der Menschen auf dem Tahrir-Platz werden sich die Uhren nicht mehr zurückdrehen lassen.
F ast ein halbes Jahr ist es her, dass die Ägypter ihren Diktator nach drei Jahrzehnten gestürzt haben. Seitdem ist viel geschehen. Das alte Parlament, die alte Regierung, die Regierungspartei und die korrupten Lokalräte wurden aufgelöst. Mubaraks Elite wurde verhaftet und zum Teil vor Gericht gestellt, ein erster Parlamentswahltermin wurde für September festgelegt. So weit, so gut.
Trotzdem rufen die ägyptischen Demonstranten jetzt zu einem Tag der Beharrlichkeit auf und klagen, dass ihnen die Revolution gestohlen werde. Denn der Kampf zwischen jenen, die immer noch bremsen und versuchen, so viel wie möglich aus der alten Zeit in die neue hinüberzuretten, und jenen, die den vollkommenen Bruch wollen, ist noch lange nicht zu Ende. Nun wollen die Demonstranten auf dem Tahrirplatz beweisen, dass sie den längeren Atem haben. Ein Ärgernis ist ihnen vor allem die Justiz, die die Offiziellen der Mubarak-Zeit aus ihrer Verantwortung entlässt. Korrupte Minister und Polizisten mit Blut an den Händen werden auf freien Fuß gesetzt. Andere werden gar nicht vor Gericht gestellt.
Im steten Verhandeln zwischen der Militärführung, die das Land kommissarisch verwaltet, und den Demonstranten mit ihrem moralischen Vorsprung war es wieder an der Zeit, den Druck zu erhöhen. Nach den Flitterwochen des arabischen Frühlings ist die Geburt der neuen arabischen Welt eine schwierige. Die Ereignisse in Ägypten sind so entscheidend, weil sie den anderen arabischen Ländern als wichtigstes Modell gelten. Die internationale Aufmerksamkeit ist auf Libyen gerichtet, weil dort auch die Nato operiert, und auf Syrien, weil dort das Regime mit besonderer Brutalität gegen das eigene Volk vorgeht. Aber es sind die derzeitigen politischen Auseinandersetzungen in Ägypten, die die Weichen für die gesamte Region stellen werden.
KARIM AL-GAWHARY ist taz-Korrespondent für die arabische Welt. Er lebt und arbeitet in Kairo, Ägypten.
Die ägyptischen Revolutionäre haben ihren Diktator gestürzt, aber keine unmittelbare Alternative präsentiert. Es gibt kein revolutionäres Projekt, das das Vakuum ausfüllt. Das macht die Lage unberechenbar, aber gleichzeitig auch so offen. Sicher ist nur: Die arabische Uhr wird sich nicht zurückdrehen lassen. Dafür garantieren die Menschen, die bei 50 Grad in der Sonne auf einem schattenlosen Platz ihre Rechte verteidigen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Fans angegriffen
Gewalt in Amsterdam
+++ Nach dem Ende der Ampel +++
Habeck hat Bock
Die Regierungskrise der Ampel
Schnelle Neuwahlen sind besser für alle
Auflösung der Ampel-Regierung
Drängel-Merz
Angriffe auf israelische Fans
Sie dachten, sie führen zum Fußball
Trumps Sieg bei US-Präsidentschaftswahl
Harris, Biden, die Elite? Wer hat Schuld?