Kommentar Wolga-Schiffsunglück: Ein Land verrottet
Die Wolga-Katastrophe steht stellvetretend für zahllose russische Unfälle. Schlamperei, Korruption und der Ungenauigkeitsethos der russischen Kultur sind dafür verantwortlich.
W ieder wurde Russland von einer Katastrophe heimgesucht. Auf Mütterchen Wolga sank das Kreuzfahrtschiff "Bulgaria" und riss mindestens 110 Menschen mit auf den Grund. Die Behörden demonstrieren wie immer in solchen Fällen Entschlossenheit: Es wird wegen Fahrlässigkeit mit Todesfolge ermittelt.
Doch fraglich ist, ob die Verantwortlichen gefunden werden. Wer über Beziehungen verfügt oder ausreichend Schmiergeld lockermachen kann, kommt gewöhnlich ungeschoren davon. Wir werden sehen.
Schlamperei, Korruption oder beides in Tateinheit sind meist die Ursachen der Katastrophen. Schwere Unglücke ereignen sich auch in anderen Ländern. Russlands Unfallstatistik stellt jedoch alles in den Schatten. Vor allem die hohen Opferzahlen, die schon bei geringfügigen Defekten zu beklagen sind, lassen schaudern. Sie dokumentieren Gleichgültigkeit gegenüber Menschenleben – und dies in Staat wie Gesellschaft
ist Russland-Korrespondent der taz.
Ein kaputter Hauptmotor, ein defektes Ruder, gefährliche Schlagseite, unzulässig herausgerissene Innenwände und eine missachtete Sturmwarnung wurden bislang als Ursachen angegeben. Da trägt kein Einzelner mehr Verantwortung, die Ertrunkenen wurden Opfer einer kollektiven fahrlässigen Realitätsverweigerung. Russland verrottet, doch niemand will es zur Kenntnis nehmen. Nur die Angehörigen der Opfer werden aufgerüttelt.
Bleiben diese hartnäckig und verlangen Aufklärung, wendet sich das anfängliche Mitgefühl gegen sie. Zu Störenfrieden werden sie erklärt, die das Große und Ganze stören. Dieses wiederum basiert auf einem Ungenauigkeitsethos der Kultur, die mühselige Kleinarbeit verachtet, ja für eine kleinbürgerliche, westliche Attitüde hält. Der Tod eines Einzelnen sei eine Tragödie, massenhaftes Sterben eine Statistik, meinte Stalin. Er hat zumindest überlebt.
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