Ein Theater zieht um: Ohnsorg macht sich nackig
Das Hamburger Ohnsorg-Theater verlässt seine angestammte Spielstätte an der Binnenalster und zieht hinter den Hauptbahnhof. Bei der letzten Vorstellung am alten Ort kam Wehmut auf.
HAMBURG taz | Marcus Jobke hält die Bühne in der Hand. Zwei Hütten sind auf ihr, aus fingergroßen Holzplättchen gebastelt. Eine Schicht aus Schmirgelpapier und dünner Pappe bildet ihre Dächer. An einer Seite wächst ein kleiner Strauch empor, ringsherum ein grün lackierter Miniaturzaun. Das Bühnenmodell zu "Hochtied bi Kiekebusch" ist nicht größer als ein Puppenhaus. Auf seinem Original im Ohnsorg Theater stand einst die Volksschauspielerin Heidi Kabel, die im vergangenen Jahr verstarb.
Für fünfzig Euro hat sich Jobke das Modell ersteigert - "ein echter Schnapper", wie er sagt. Jobke ist Mitte dreißig, trägt eine Igelfrisur und Flipflops. Er gehört nicht zu den Leuten, die man normalerweise in einem Theater erwartet, das plattdeutsche Volksstücke inszeniert. "Das Ohnsorg ist hier in Hamburg einfach Kult!", sagt Jobke. Er hat etliche Theaterfotos unter den Arm geklemmt, während er das Bühnenmodell vorsichtig durch die Menschenmenge balanciert, die unaufhörlich in das Theater drängt.
Nach 75 Jahren zieht das durch seine Fernsehaufzeichnungen bekannte Theater um. In der Sommerpause geht es von der noblen Lage nahe der Binnenalster ins Bieberhaus am Hauptbahnhof. All die Theaterschätze, die nicht mitgenommen werden, werden an diesem Samstagmittag verkauft.
wurde 1902 in Hamburg von Richard Ohnsorg gegründet.
Seit 1936 ist das Theater in der Spielstätte an den Großen Bleichen, nur wenige Meter von der Binnenalster entfernt.
Seit 1954 werden Aufführungen im Fernsehen übertragen. Diese sind im Gegensatz zu den regulären Aufführungen nicht auf Plattdeutsch.
Die 2010 verstorbene Volksschauspielerin Heidi Kabel war lange Zeit bekanntestes Ensemblemitglied.
Am 28. August eröffnet das neue Ohnsorg-Theater im Bieberhaus am Bahnhof mit "En Sommernachtsdroom".
Gut zwölf Stunden vorher war am Freitagabend um kurz nach zehn der Vorhang nach der letzten Vorstellung des Stücks "Brand-Stiftung" gefallen. Es geht in dem Stück vermutlich darum, dass Pastor Willem Brand sein Haus anzündet, um von allen Seiten Geld einzustreichen - so erklären es jedenfalls die, die Plattdeutsch können.
Bei der "nicht letzten, sondern allerletzten Vorstellung", so Intendant Christian Seeler, bejubeln 400 Zuschauer jede Pointe mit Applaus. Im Chor singen die Ohnsorg-Fans schließlich "Im Ohnsorg sagt man Tschüss" und winken dabei mit weißen Tüchern, die in rot mit "Atschüss, altes Haus!" bestickt sind.
Doch noch während die älteren Damen in schrill-bunt karierten Jäckchen und die älteren Herren in grau-beige karierten Jacketts in Richtung Innenhof tappen, wo der Intendant zum Sekt eingeladen hat, schrauben, reißen und drücken fünfzehn schwitzende Männer an den Sitzbänken, deren Klappmechanismus sich stets verhakt - der NDR ist mit zwei Teams vor Ort, um auch diese Umzugsinszenierung einzufangen. Unaufhaltsam demontieren die Männer Sitzreihe für Sitzreihe, Stuhl für Stuhl in der stickig schwülen Hitze des Theatersaals.
Nach Kiel kommen die Sitze jetzt - zumindest ein großer Teil davon. Eine Laienschauspieltruppe hat sie für ihr kleines Theater gekauft. Für vier Uhr früh ist der Transporter bestellt.
Mohamed Amar blickt starr von hinten in Richtung Bühne, bewegt sich nicht. Vor 45 Jahren hat der gebürtige Marokkaner gegenüber vom Ohnsorg gearbeitet, erzählt er. "Ich habe die Schauspieler und Bühnenarbeiter alle gekannt, ich bin ihnen ja tagtäglich begegnet." - "Mein Mann hat anfangs nicht immer alles verstanden, aber wir haben trotzdem gelacht und sind immer wieder ins Ohnsorg gegangen", wirft seine Frau Rosmarie ein. Die Liebe zum Ohnsorg ist geblieben - vor kurzem erst waren sie mit ihrem siebenjährigen Enkelsohn in einer Vorstellung: "Er erzählt ständig davon." Dann greift Rosmarie nach der Hand ihres Mannes. Noch minutenlang blickt das Rentnerehepaar in den Saal.
Es ist kurz nach 23 Uhr, gut eine Stunde nach der letzten Aufführung. Ganze Sitzreihen gibt es nicht mehr, regelmäßige rechteckige Abdrücke im lilafarbenen Teppich erinnern daran, dass hier noch Minuten vorher die Zuschauer gesessen haben. Auf einem Haufen liegen die mit rotem Plüsch bezogenen Rückenlehnen im Foyer, neben den Büsten der ehemaligen Intendanten Hans Mahler und Richard Ohnsorg.
Zwischen den Arbeitern sitzen nur noch vereinzelt Stammgäste auf den noch übrig gebliebenen Stühlen, blicken ratlos in den sich langsam leerenden Saal und auf die Bühne. Letzte Erinnerungsfotos werden geschossen. "Die machen unseren Saal ganz nackig" - auch die drei Frauen an der Garderobe laufen ein letztes Mal durch ihr Ohnsorg Theater. Der Saal ist leer.
Am nächsten Morgen stehen nur noch drei Bänken mit jeweils vier Sitzen. An den Wänden hängen Stromkabel, wo gestern noch die Wandbeleuchtung war. Auf der Bühne sind die Auktionsgegenstände drapiert - die Buchstaben des Ohnsorg-Theater-Schriftzugs, Kostüme von Heidi Kabel, Entwürfe von Bühnenbildern, wie das von "Hochtied bi Kiekenbusch", das Marcus Jobke gleich ersteigern wird.
Draußen warten die Besucher fast eine halbe Stunde, bis sie in den Innenhof des Theaters gelassen werden. Je näher die Versteigerung rückt, desto voller wird der Theatersaal. Intendant Christian Seeler moderiert, die eigentliche Attraktion aber ist Schauspieler Wolfgang Sommer. Es ist sein letzter Auftritt. In blauem Hut, Seemannshemd und Halstuch steht er hinter einem Pult, wedelt, zeigt, klopft mit seinem Hammer - "So leef ik dat" ("So mag ich das") und "toeerst betohln" ("zuerst bezahlen") solle einer der Bieter - der hatte nämlich bereits drei der Sitzreihen ersteigert. 400, 500 - ja 630 Euro. Kopfschütteln bei den anderen im Saal - breites Grinsen bei Sommer.
Nach gut zwei Stunden ist alles weg - und auch Sommer hat seine allerletzte Rolle gespielt. Und während schon alle draußen ihr Ersteigertes dem ein oder anderen Fernsehteam präsentieren, ist Sommer noch immer auf der Bühne.
Gebückt steht er hinter dem Pult, an dem er gerade noch die Versteigerung geleitet hat, stützt sich auf seine Hand, schaut in den Zuschauerraum, schaut und schaut. Dorthin, wo sonst Tag für Tag hunderte von Zuschauer saßen, wenn er auf den Brettern stand. Er starrt dorthin, wo nun nur noch das Gerippe eines Zuschauerraums zu sehen ist, während draußen auf einem Flohmarkt die letzten Reste des Inventars verhökert werden.
"Es ist schon ein komisches Gefühl, wenn man hier ein letztes Mal steht, wo man doch einen Teil seines Lebens verbracht hat. Aber jetzt nie wieder zurückkommt", sagt er schließlich zu einer Frau im Bühnenraum. Dann dreht er sich um und tappt nach hinten über die Bretter der Drehbühne. Zurück blickt er nicht.
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