Die Wahrheit: Der homosexuelle Mann ...
… insbesondere der junge, schaut nie zurück. Sein Leben beginnt mit dem Coming-out, der Blick ausgerichtet auf eine goldene Zukunft..
Die Jugend ist sein Kapital, und alte Männer, die ihn daran erinnern, was dereinst aus ihm selbst werden könnte, sind ihm ein Gräuel. Welkes Fleisch und potenzielle Grapscher, denen der Zutritt zu seinen Bars und Kneipen aufs strikteste untersagt ist. Jede Generation junger Schwuler erfindet sich neu, das ist das Privileg ihres Alters.
Die Abwehr jeder Geschichte bleibt nicht im Persönlichen hängen. In der aktuellen Ausgabe des schwulen Berliner Stadtmagazins Siegessäule ist davon die Rede, dass der schwule Berlinale-Preis "Teddy Award" zuerst in einem Buchladen verliehen wurde. In einem Buchladen? Bei Marga Schoeller? Oder Kiepert? Keine Ahnung! Dass der Preis anfangs im ersten Schwulenbuchladen der Republik, bei "Prinz Eisenherz", verliehen wurde - wen interessiert das schon? Kleiner Hinweis für alle, die dennoch interessiert sind: In diesem Buchladen wurde auch die Siegessäule gegründet.
Wenn es dann so richtig in die schwule Geschichte geht, bleiben die alten Männer vollends unter sich. Wie an jenem Donnerstagabend im vergangenen Juli. Rund 50 Grauhaarige waren da im Schwulen Museum zusammen gekommen, allesamt Väter und Pioniere der Schwulenbewegung Ost wie West. Es galt, einen der Ihren zu ehren an diesem Abend, Wolfram Setz. Der Historiker war nicht nur gerade 70 Jahre alt geworden, auch die von ihm edierte Buchreihe "Bibliothek rosa Winkel" wurde 20 in diesem Jahr - zwei Daten, die in launigen Reden gewürdigt wurden.
Selbstverständlich war diese öffentliche Feier in keinem der Veranstaltungskalender der diversen Schwulenblätter der Hauptstadt notiert, erst recht war nirgends ein Porträt des Jubilars oder eine Vorstellung seiner Buchreihe zu lesen. Dabei gibt Setz mit seinen Büchern Einblick in Lust, Leben und Leiden schwuler Vorfahren wie kein Zweiter. Nicht nur, dass er den "ersten Schwulen der Weltgeschichte" (Setz), den Juristen Karl Heinrich Ulrichs, zurückgeholt hat ins Gedächtnis seiner Nachkommen, auch in den übrigen Büchern seiner bislang auf 59 Bände angewachsenen Reihe kommen Sodomiter, Urninge, Homosexuelle und Schwule zu Wort, die in jeder offiziellen Geschichtsschreibung fehlen. Wie beispielsweise der stinkreiche Jacques dAdelswärd-Fersen, ein Pariser Dandy, der sich auf Capri in einen berauschten Tod kokste. Oder die schwulen Erinnerungen des polnischen Komponisten Karol Szymanowski, die Fantastereien des einstigen Spiegel-Redakteurs Felix Rexhausen über eine rosa Revolution in der BRD der sechziger Jahre, John Henry Mackays Bericht über das schwule Berlin der zwanziger Jahre oder Hubert Kennedys Erinnerung an die Schweizer Zeitung Der Kreis, die einzige schwule deutschsprachige Stimme während des Nazi-Regimes. All jene und noch viel mehr hat Setz wiederentdeckt und zugänglich gemacht, auch wenn nur wenige davon wissen wollen. Dabei gibt es keine neue Geschichte ohne die alte.
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