13. August 1961: Der Schmerz der Mauer
Die Bremer Künstlerin Dagmar Calais hat im Grenzübergang Marienborn eine Kunst-Installation zur Mauer realisiert, die die Toten in den Mittelpunkt rückt
Dagmar Calais ist eine Bremer Malerin. "Farbgewaltig, ungestüm und anstößig", schrieb der Stern mal über sie. "Mut zum künstlerischen Anachronismus" bescheinigt ihr der Kunsthistoriker Chris Steinbrecher - ihr Mann. Seit mehr als zehn Jahren beschäftigt Calais sich mit der Mauer an der deutsch-deutschen Grenze.
"Ich bin in Bremen aufgewachsen, mit der DDR hatten wir überhaupt nichts zu tun", sagt sie. Irgendwann hat sie Berlin begonnen, sich mit dem Thema Mauer auseinanderzusetzen - und 1999 ihre erste Ausstellung "Blühende Landschaften" gezeigt, unter anderem in dem ehemaligen Stasi-Gefängnis in Halle "Roter Ochse". Da ist der sächsische Kulturminister auf sie aufmerksam geworden und hat sie gebeten, in den Kontrollräumen des Grenzüberganges Marienborn eine Kunstausstellung 50 Jahre nach dem Mauerbau zu realisieren.
"Es gibt eine Liste der Toten der Grenze, 867 Namen umfasste die", sagt sie. Dagmar Calais hat jeden der 867 Namen auf einen weißen Holzklotz geschrieben, mit Todesdatum, und im "Raum der Toten" auf dem Boden verteilt. Darunter sind ganze Familien, die die Grenze im Auto durchbrechen wollten und gegen die ausgefahrenen Sicherheitspoller aus Beton geknallt sind, Kinder, die im Kofferraum erstickt sind, auch Grenzschützer, die von desertierenden Kollegen erschossen wurden. "Da liegt meine Schwester", hat eine Frau bei der Ausstellungseröffnung im Mai ergriffen gesagt. Für viele der Toten der innerdeutschen Grenze gibt es keine normalen Gräber.
Die Kunst der Ausstellung ist ein Mittel, das den Emotionen der Opfer zu ihrem Recht verhelfen will. Im "Raum der Flucht" wird auf die Fluchtwege zu Lande, zu Wasser und in der Luft angespielt. Ein Küchenstuhl hängt dort an der Decke, mit einem Hosengürtel befestigt. Die "Luftschiffe" der Fluchtwilligen waren oft abenteuerlich konstruiert. Ein stilisierter Ikarus schwebt im Raum. Der "Ikarus" ist in Literatur der DDR ein Symbol des Gelingens oder Nichtgelingens der Flucht. Ein Ruderboot fährt durch die auf Papier geschriebenen Menschenrechte. Eingebunden in die Ausstellung ist ein original erhaltener Büroraum der DDR-Grenzbeamten, integriert sind auch Dutzende von offiziellen Pressefotos, auf denen Machthaber und "Volk" grinsend und wohlgelaunt in die Kamera gucken. Auf einen weißen Küchenstuhl hat Dagmar Calais alle Namen der Volkskammer-Mitglieder geschrieben, die damals den Bau der Mauer abgesegnet haben. Im Rücken des Stuhles steht "Erich Mielke".
"Der Fall der Mauer war gleichzeitig die Geburtsstunde des neuen Europa", sagt Dagmar Calais. "Den Schmerz der Opfer kann das nicht mindern." Ein großer Kasten mit Muttererde ist in den ehemaligen Kontrollräumen aufgebaut, Besucher können dort Samen aussäen - für eine bessere Zukunft.
Wegen des großen Besucherandrangs ist die Ausstellung der Bremer Künstlerin bis zum 9. September verlängert worden.
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