piwik no script img

Hörspielpreis der KriegsblindenPreiset die Freiheit!

Nach 60 Jahren Hörspielpreis der Kriegsblinden geraten mit dem Aussterben der Betroffenen auch akustische Experimente im Radio zunehmend in Gefahr. Ein Jammer.

Christoph Schlingensief erhielt 2003 für sein Stück "Rosebud" den renommierten Hörspielpreis. Bild: dpa

Es ist ein Experiment. Christoph Schlingensiefs Hörspiel "Rosebud", 2002 produziert vom WDR, zählt zu den aktuell avantgardistischsten Vertretern des Genres. Sein "Gleichnis über Radikalismus, Privatheit und Privatisierung" erzählt die Geschichte einer Zeitungsgründung: Der FDP-Politiker Guido Kroll will gemeinsam mit seinem anfangs zögerlichen Kumpel Peter Rosmer - Bürgerrechtler und Verleger in Personalunion - mit dem Sonntagsblatt "ZAS" der Spaßgesellschaft ein publizistisches Pendant verpassen.

Denn die noch junge Berliner Republik kann politischen "Spaßjournalismus" ganz gut vertragen, da sind sich die Herren sicher. Mit der fingierten Entführung der Kanzlergattin Doris scheint auch bald eine akzeptable Topstory gefunden zu sein.

2003 erhielt Christoph Schlingensief für diese Regiearbeit den Hörspielpreis der Kriegsblinden. Nach Meinung der Jury hatte er "in herausragender Weise die Möglichkeiten der Kunstform realisiert und erweitert". Zu hören ist das politisch-soziale Klang- und Diskursfeuerwerk am Sonntag um 22.05 Uhr auf sämtlichen ARD-Kulturwellen.

Im Rahmen des ARD Radiofestivals feiert man in diesem Jahr auch das 60-jährige Bestehen des Hörspielpreises der Kriegsblinden. Es folgen am 28. August "Die graue staubige Straße" von Peter Avar und Ilona Jeismann (SFB, 1998) und am 4. September "Föhrenwald", Michaela Melián (BR, 2005).

Der Hörspielpreis der Kriegsblinden gilt als der renommierteste der Branche und ist einer der ältesten Kulturpreise des Landes überhaupt. Vergeben wurde die undotierte Ehrung erstmals 1952, erfunden vom damaligen Schriftleiter des Bundes der Kriegsblinden Deutschlands (BKD), Friedrich Wilhelm Hymmen.

taz

Diesen Text und viele andere spannende Geschichten lesen Sie in der sonntaz vom 20. und 21. August 2011 – ab Sonnabend zusammen mit der taz an ihrem Kiosk oder am eKiosk auf taz.de. Die sonntaz kommt auch zu Ihnen nach Hause: per Wochenendabo. Und für Fans und Freunde: facebook.com/sonntaz.

Der Journalist stand bis zu seinem Tod 1995 auch der Jury vor und war von 1958 bis 1978 Chefredakteur des Informationsdienstes Kirche und Rundfunk beim Evangelischen Pressedienst. Träger des Preises ist neben dem Kriegsblindenbund (BKD) seit 1994 auch die Film- und Medienstiftung NRW.

Traditionell reicht alljährlich jede öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt ein Hörspiel im Frühjahr ein und darf ein weiteres vorschlagen. Seit fünf Jahren nehmen auch der ORF und der Schweizer Rundfunk teil.

Zu den Besonderheiten des Hörspielpreises, der im Laufe der Jahre für die Radiodisziplin stilprägenden Ruf erlangte, gehört auch die Zusammensetzung und Größe der Jury: Neben sieben Fachkritikern bilden sieben Kriegsblinde die Jury. Vier weitere Mitglieder stellt seit 2001 die Film- und Medienstiftung. Den Juryvorsitz hat die Schriftstellerin Anna Dünnebier inne.

Dieter Renelt sitzt seit 1999 als "Laie" in dem Prämierungsgremium, seit 2001 ist er Bundesvorsitzender des BKD. Der 73 Jahre alte Jurist erblindete im Alter von sechs Jahren, als er mit Munition spielte. Renelt ist einer von noch 640 lebenden Kriegsblinden in Deutschland. Im Gespräch mit der taz, das bis zum Ende der Bundesligakonferenz warten muss, erzählt Renelt von den Unterschieden zu den sehenden Kollegen innerhalb der Jury.

Nicht immer einig

Nicht selten fühle man sich von den Kritikern "intellektuell überrollt", sagt der pensionierte Beamte. Das Verhältnis sei aber "gut und respektvoll", wobei sich in der Regel die Kritiker "schon durchsetzen".

Die meisten Mitglieder des BKD seien mit der Auswahl des dann prämierten Hörspiels nicht unbedingt zufrieden. Grund dafür ist eine größere Affinität der Laienjury zum konsequent spannend gehaltenen narrativen Hörspiel.

Die für den Preis und die Branche so wichtige Berücksichtigung von technischen und akustischen Innovationen schlägt sich eher im Kritikervotum nieder. Dennoch, stimmen alle sieben blinden Juroren gegen eine Produktion, ist ein Gewinn nicht möglich.

Der Auszeichnung von Christoph Schlingensief 2003 etwa ging ein heftiger Jurystreit voraus, der sogar an die Öffentlichkeit drang. Einer der blinden Juroren, Hans-Dieter Hain, war mit der Auswahl so unzufrieden, dass er im Branchenblatt epd medien sogar für die Abschaffung des Preises "in seiner jetzigen Form" plädierte.

Auf der Kippe

Es ging damals um die Mehrheitsverhältnisse in der Jury, den Generationenkonflikt - das Durchschnittsalter der BKD-Mitglieder liegt heute zwischen 78 und 80 Jahren - und ästhetische Differenzen. Der Preis schien auf der Kippe zu stehen, überstand aber letztlich die Auseinandersetzung.

Martina Müller-Wallraf war in den letzten zehn Jahren an sieben erfolgreichen WDR-Einreichungen redaktionell beteiligt. Zwar sind die Kölner Radiomacher mit jährlich rund 100 Hörspielneuproduktionen der größte Vertreter des Genres im ARD-Verbund, dennoch ist der Preisregen bemerkenswert.

Müller-Wallraf, Ressortleiterin für Hörspiel und akustische Kunst, sagt, die Ehrung sei wie "ein Echolot für die Entwicklung der Gattung im Radio". Sie lobt vor allem den Mut der Jury, "die Risikobereitschaft der Redaktionen und Autoren auszuzeichnen".

Dieses Jahr profitierten davon der Hörspielautor Robert Schoen und dessen Werk "Schicksal. Hauptsache Schicksal", eine Autorenproduktion in Kooperation mit dem HR. Thematisch orientiert sich Schoen an Szenen aus der 1939 erschienenen, novellenartigen Milieustudie "Die Legende vom heiligen Trinker" von Joseph Roth.

Ein besonderer Preis

Die "gelungene Inszenierung gelenkter Improvisation" erzählt die Geschichte des dem Alkohol verfallenen Pariser Stadtstreichers Andreas "höchst kunstvoll mit der Wirkung großer Authentizität", befand die Jury. Schoen selbst sieht eine besondere Qualität des Preises, der ihm als "Abbild bundesdeutscher Kulturgeschichte" erscheint, in der gleichwertigen Berücksichtigung von "Außenseitern und Etablierten".

Preisträger waren neben Ingeborg Bachmann (1959) und Heiner Müller (1986) etwa auch die eher unbekannteren Helmut Heißenbüttel (1971) und Peter Jacobi (1989).

Bei der Film- und Medienstiftung wie beim Kriegsblindenbund macht man sich indes Gedanken um die Zukunft. Lange wird es den BKD angesichts des Alters seiner Mitglieder nicht mehr geben, was die Frage aufwirft, wie es dann mit dem Preis weitergeht.

Anke Morawe, bei der Film- und Medienstiftung für den Preis und die Hörspielförderung zuständig, hofft, dass "dieser renommierte Preis am Leben erhalten wird". Sie bestätigt, dass "der Preis in letzter Zeit aus dem Fokus der Medien sowie der Öffentlichkeit gerückt ist".

Geräuschloses Engagement

Dabei setzt die ARD bei der Vermarktung des eigenen Radioprogramms durchaus auf eine aggressive Werbestrategie. Neue Marken wie der "ARD radiotatort", das "ARD radiofeature" oder der seit 2006 vergebene "Deutsche Hörspielpreis der ARD" werden massiv beworben. Das Engagement um den Hörspielpreis der Kriegsblinden ist da eher ein bedächtig stilles - man stellt die Räumlichkeiten für die Jurysitzungen zur Verfügung und bezuschusst die Reisekosten der Juroren.

Auch werde die Verleihung "nicht mehr von den IntendantInnen der jeweils federführenden ARD Anstalt besucht", erzählt Angelika Lefers-Eggers vom Deutschlandradio Kultur. Für die Programmdirektion betreut sie die Preiseinreichungen beim Sender.

Am Donnerstag trafen sich die Träger in Köln, um über die weiteren Perspektiven des Preises zu beraten. Mittelfristig steht nicht weniger auf dem Spiel als die vom Hörspielpreis der Kriegsblinden beförderten akustischen Experimente im zunehmend stromlinienförmigen öffentlich-rechtlichen Hörfunk - Experimente wie Christoph Schlingensiefs "Rosebud".

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!