piwik no script img

Der Vollzeitaktivist"Wenn ich jetzt nichts mache, macht es keiner"

Niemand hat zuletzt mehr Demonstrationen angemeldet als Dirk Stegemann. Von Rechten wird er zum Feindbild Nummer eins stilisiert.

Will das System ändern: Dirk Stegemann auf einer Demo. Bild: Wolfgang Borrs
Konrad Litschko
Interview von Konrad Litschko

taz: Herr Stegemann, vorm Bundestag demonstrieren täglich Menschen gegen Banken und Kapitalismus, so wie in unzähligen anderen Städten weltweit. Sind Sie gerade glücklich?

Dirk Stegemann: Zum Glücklichsein scheint es mir doch etwas verfrüht. Noch sehe ich auch keinen Grund dazu. Dass der Kapitalismus systembedingt Krisen und Ungleichheit produziert, ist ja schon lange bekannt. Da frag ich mich, warum die Menschen erst jetzt auf die Straße gehen und warum es immer noch zu wenige sind.

Haben Sie nicht immer gefordert, dass die Leute nicht mehr gegen Symptome, sondern gegen die Ursachen auf die Straße gehen?

Es freut mich schon, dass die Leute erkennen, dass etwas mit dem Grundfundament dieser Gesellschaft nicht stimmt. Reichtum geht eben nicht ohne Armut und Ausgrenzung. Und der bürgerliche Parlamentarismus mit seinen vorgeschobenen Sachzwängen führt sich doch selbst ad absurdum. Wohin aber der Protest führen soll, was die Lösungen sein sollen und wie weit sie gehen - das kann ich überhaupt noch nicht sehen.

Ist es nicht schon mal ein Fortschritt, dass Zustände kritisch hinterfragt werden?

Ganz klar: ja. Aber reicht es, sich auf Banken und das herrschende Establishment zu konzentrieren? Und wie soll die direkte, die echte, die wirkliche Demokratie aussehen, die jetzt alle fordern? Wie damals bei den Griechen? Es gibt einfach bisher noch kein Modell, in dem Demokratie vollständig umgesetzt wurde, also im Sinne gleicher politischer und sozialer Rechte für alle.

Dirk Stegemann

Dirk Stegemann wird 1967 in Neubrandenburg (Mecklenburg-Vorpommern) geboren und wächst in Potsdam auf. In der DDR beginnt er ein Studium der Gesellschaftswissenschaften. Nach der Wende arbeitet Stegemann zehn Jahre lang als Busfahrer, lässt sich später zum Steuerfachangestellten umschulen. 2006 zieht er für sein Politikstudium nach Berlin.

Politisch tritt Stegemann 2008 breiter in die Öffentlichkeit, als er die Zwischenstation des "Zuges der Erinnerung" in Berlin organisiert, ein Mahnmal für die Deportationen von Kindern in nationalsozialistische KZ. Und als er in der Initiative "Kindertransportskulptur" am Bahnhof Friedrichstraße aktiv wird. Daneben engagiert sich der 44-Jährige beim Bündnis "Rechtspopulismus Stoppen", beim Arbeitskreis "Marginalisierte - gestern und heute" und bei der Berliner "Vereinigung für die Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten".

Im Juni 2011 wird Stegemann vom Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) das "Band für Mut und Verständigung" überreicht. Stegemann arbeitet in Nebenjobs bei Berliner Landesparlamentariern und ist ledig.

Das klingt arg pessimistisch.

Nein. Ich glaube ja, dass sich das System ändern lässt und ein komplett neues Denken erreicht werden kann. Je mehr die sozialen Probleme wachsen, desto unfähiger werden sich die etablierten Parteien erweisen, diese zu lösen. Weil sie Symbolpolitik betreiben, ohne an die Ursachen zu gehen. Und je größer die Probleme, umso vehementer wird der Protest. Die Frage ist nur, welche Richtung er nimmt. Und da ist Deutschland leider nicht gerade als Land linker und emanzipatorischer Umwälzungen bekannt.

Was wäre denn Ihre Lösung?

Letztlich muss es um ein selbstbestimmtes und gleichberechtigtes Leben für alle gehen, das ich in einer kapitalistischen Gesellschaft nicht sehe. Soziale Gerechtigkeit und Solidarität - da hat die Occupy-Bewegung schon ganz recht - brauchen wir global, wenn sie wirklich funktionieren sollen. Eine Lösung ist aber viel zu komplex für ein paar Sätze. Ein Anfang wäre, die Grundrechte jedes Menschen auf ein Dach über dem Kopf, auf Kleidung, Nahrung und Bewegungsfreiheit nicht für die Gewinne Einzelner zu opfern. Besitz und Eigentum müssen radikal hinterfragt und neu definiert werden. Umso mehr, da die Ressourcen dieser Welt begrenzt sind und deren gerechte Verteilung und der verantwortungsbewusste Umgang mit der Natur bisher politisch nicht angepackt werden. Das würde ja auch an den Grundfesten der Gesellschaft rütteln.

Sie haben Ihre Zeit zuletzt dem Widerstand gegen Rechtspopulisten gewidmet. Kaum ein Auftritt von "Pro Deutschland" und "Freiheit", gegen den Sie nicht mit dem Bündnis "Rechtspopulismus stoppen" protestiert hätten. Woher dieser Elan?

Das war ein Fulltime-Job. Sieben Tage die Woche, oft wenig Schlaf. Recherche-Arbeit, Homepage bestücken, Kontakte mit Bündnismitgliedern halten, Öffentlichkeitsarbeit, Aktionen und Finanzierungen organisieren. Ich habe haufenweise Bücher zu Hause, die ich gerne lesen würde. Ich komm nicht dazu.

Sie haben für Ihr Engagement Ihren Job geopfert?

Ich hatte Politik an der Freien Universität Berlin studiert, das habe ich ausgesetzt. Auch die Nebenjobs bei Berliner Abgeordneten waren nur noch eingeschränkt möglich.

Moment, Sie arbeiten für Abgeordnete, aber schimpfen über die etablierte Politik?

Nun, auch ich muss Kompromisse eingehen. Ich lebe ja nicht in einem luftleeren Raum außerhalb gesellschaftlicher Strukturen. Da mir niemand das Studium oder mein Engagement finanziert, muss ich mir das Geld zum Leben halt durch Jobs beschaffen. Und da war es für mich naheliegend, meine Kenntnisse und Fähigkeiten dort einzubringen, wo ich sie am besten aufgehoben sehe. Solange ich das Gefühl habe, etwas bewirken zu können, okay. Wenn nicht, muss ich Konsequenzen ziehen.

Warum so ein Mordsaufwand? "Pro Deutschland" hat bei der Wahl 1,2 Prozent, die Freiheit 1,0 Prozent bekommen.

Das war ja nicht sicher vorherzusehen. Hätten wir nicht so früh angefangen, vor deren rassistischen Positionen zu warnen, wäre das vielleicht anders gekommen. Wir haben aber auch immer betont, dass nicht die rechtspopulistischen Splitterparteien das Problem sind, sondern die etablierten Parteien, die deren Ideen übernehmen. Schauen Sie, wie Thilo Sarrazin sozial Benachteiligte diskriminiert und gegeneinander ausspielt. Oder der Umgang mit Erwerbs- und Wohnungslosen in diesem Land: Sinti und Roma in den Kosovo abschieben? Kein Problem. Und Buschkowsky [Neuköllns SPD-Bezirksbürgermeister, d. Red.] will Kindergeld für Schulschwänzer kürzen. Das ist Rechtspopulismus!

Geert Wilders kann in den Niederlanden punkten, die FPÖ in Österreich, die SVP in der Schweiz: Warum aber gibt es keine erfolgreiche rechtspopulistische Partei in Deutschland?

Weil die Parteien, die es hier versucht haben, chaotisch agiert haben. Gegenseitige Konkurrenzen, interne Machtkämpfe. Bei der Pro Bewegung können nicht mal Pro Berlin und Pro Köln miteinander. Und Freiheit-Chef René Stadtkewitz reiste lieber durch die Welt, als in Berlin Wahlkampf zu machen. Das Gros der Bevölkerung hat die Rechtspopulisten - wenn überhaupt - meist nur über den Gegenprotest wahrgenommen. Und damit als Problem, nicht als Normalität.

Hätten Sie die Parteien nicht auch ignorieren können?

Ich denke, es hat sich historisch erwiesen, dass Verschweigen und Weggucken nichts verbessert. Und ich fürchte, dass in Deutschland die Zeit der Rechtspopulisten erst noch kommen könnte. Wenn man die Debatten um die Euro-Krise oder die rassistische Hetze gegen Griechenland sieht, scheint mir der Rechtspopulismus momentan eher auf dem Vormarsch.

Fehlt den hiesigen Rechten nur ein Charismatiker? So was wie ein Sarrazin?

Das könnte tatsächlich sein. Die hunderttausendfach verkauften Bücher Sarrazins und die Debatten um dessen Thesen haben ja gezeigt, dass das Potenzial da ist. Da hat sich in der Gesellschaft eine beängstigende, rassistische Grundstimmung gezeigt. Die aber soll bitte immer noch bürgerlich daherkommen. Mit Parteien wie Pro Deutschland, die sich aus NPD, DVU und Reps rekrutieren, ließ sich das kaum demokratisch legitimieren.

Ist es nicht beruhigend, dass in Berlin die Abgegessenheit über die Altparteien nicht Rechten, sondern den Piraten zugutekommt?

Im ersten Moment mag das sein. Weil so die Etablierten unter Druck geraten und merken, dass sie mit ihren Angeboten nicht mehr ankommen und sich als Problemlöser delegitimiert haben. Aber noch weiß ja gar keiner, wo es hingeht mit den Piraten. Der etwas leichtfertige Umgang mit ehemaligen NPD-Mitgliedern etwa stimmt nachdenklich. Die mögen ja aus der Partei ausgetreten sein, aber aus dem Gedankengut?

Sie sind schon ein ziemlich skeptischer Mensch, oder?

Wie lässt Goethe seinen Mephisto so schön sagen: "Ich bin der Geist, der stets verneint." Nichts einfach so hinzunehmen, sondern Dinge zu hinterfragen ist doch nichts Schlechtes, oder?

Woher rührt diese Skepsis?

Schon in meiner Jugend habe ich oft einen inneren Widerstand aufgebaut, wenn ich mich unter Druck gesetzt fühlte, wenn ich etwas als autoritär oder ungerecht empfand. Das ist natürlich ein subjektives Gefühl. Zweifel und Fehler eingeschlossen. So habe ich zu Jugendzeiten ein Studium bei der Volksmarine der NVA aufgenommen, aus Überzeugung. Ohne erkannt zu haben, dass mir innerlich die Bereitschaft fehlte, mich militärischen Strukturen, Befehl und Gehorsam unterzuordnen. Daran ist das Studium dann gescheitert. Tja, so lernt man, sich selbst zu hinterfragen.

Wann haben Sie Ihr politisches Engagement entdeckt?

Ich bin antifaschistisch erzogen worden und war als junger Mensch durchaus der Meinung, man müsse ein besseres System aufbauen, frei von Diskriminierung, Ausgrenzung und Neofaschismus. Das hat aus verschiedenen Gründen leider in der DDR nicht funktioniert.

Sie waren 22 Jahre, als die Mauer fiel. Eine Enttäuschung?

Ja, doch. Ich war schon von der Idee einer sozial gerechten Gesellschaft überzeugt. Und insgesamt betrachtet war die DDR sozial gerechter als die Bundesrepublik. Gleichzeitig habe ich auch gesehen, dass die Ideale, die nach außen vertreten wurden, sich nach innen oft nicht niedergeschlagen haben. Nach der Wende habe ich lange politisch nichts gemacht, sondern als Busfahrer gearbeitet. Es hat Jahre gedauert, bis ich wieder zu mir selbst gefunden habe. Erst 2006 mit dem Umzug nach Berlin und dem Studium an der FU gings wieder los.

Vom Busfahrer zum Politaktivisten: Gabs da ein Schlüsselereignis?

Eigentlich nicht. Offenbar war das Politische nur verdrängt.

Sie haben sich immer für Randgruppen eingesetzt. Warum?

Die demokratische und humanistische Verfasstheit einer Gesellschaft zeigt sich besonders an ihrem Umgang mit den sozial Schwächsten. Da bleibt der Kapitalismus ein Problem. Gerade in Krisenzeiten wird der Kampf "Jeder gegen Jeden" noch zusätzlich ethnisiert und kulturalisiert: Die, die sich vermeintlich oder tatsächlich am wenigsten wehren können, werden noch stärker das Ziel von Ausgrenzung und Diskriminierung. Wenn ich aber erlebe, wie Menschen ungleichwertig behandelt werden, lässt mich das nicht los. Ich bin eben ein sehr emotionaler Mensch.

Okay, aber nicht jeder investiert so viel Zeit wie Sie.

Die andere Seite meiner Sturheit ist die Hartnäckigkeit. Je mehr ich mich in die Materie eingearbeitet habe, umso mehr habe ich manifestierte Ungleichheiten im System kennengelernt. Das Problem ist, dass es so komplex ist. Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus - geht man an die Ursachen, lässt sich vieles nicht voneinander trennen. Die Lage ist sogar schlechter geworden: Spätestens seit Sarrazin wird wieder offen und scheinbar legitim über die Ungleichwertigkeit von Menschen diskutiert. Da frage ich mich schon manchmal: Sieht das denn niemand?

Kaum jemand dürfte im letzten Jahr so viele Demos in Berlin angemeldet haben wie Sie. Können Sie noch mitzählen?

Puh. (Pause) Keine Ahnung. Jedenfalls einige. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass die Rechtspopulisten so aktiv waren. Und Bündnisarbeit ist eben keine Einbahnstraße. Wer bei uns mitmacht, dem werde ich nicht nein sagen, wenn ich um eine Demo-Anmeldung gebeten werde. Meine Daten sind ja sowieso bei der Versammlungsbehörde bekannt. Ich kann verstehen, wenn andere das nicht wollen.

Was haben die Demos erreicht?

Ich kann damit auf Probleme aufmerksam machen, kann Menschen anregen, sich für etwas einzusetzen und Anliegen unterstützen. Und plötzlich wurde ja diskutiert, was Rechtspopulismus ist. Und "Die Freiheit" und "Pro Deutschland" konnten sich nicht mehr unerkannt treffen und als harmlos präsentieren. Wirklich erreichen kannst du am Ende aber nur etwas, wenn du die sogenannte Masse mitziehst, die Unentschlossenen und Demotivierten, die diese Gesellschaft zuhauf produziert.

Sie sind jetzt ein Feindbild der rechten Szene: Im Internet finden sich Steckbriefe, "die Freiheit" überzieht Sie mit Klagen wegen vermeintlicher Beleidigung. Haben Sie keine Angst?

Erstmal freut es mich, dass das Bündnis und ich als derart gewichtige Gegner wahrgenommen werden, dass zu solchen Mitteln gegriffen wird. Da zeigt sich schnell, wo für die ach so demokratischen Rechtspopulisten Demokratie und Freiheit aufhört. Ich sehe die Drohungen und Rechtsstreitigkeiten vor allem als Versuch, mich in meiner Aktivität zeitlich und finanziell einzugrenzen. Das ist nervig, aber ich werde mich nicht davon lähmen lassen.

Ihnen wird auch offen mit Gewalt gedroht.

Es wäre falsch, in Panik zu verfallen. Genau das wollen die ja. Trotzdem muss man selbstverständlich eine gesunde Vorsicht walten lassen.

Sie wollen etwas kürzertreten?

Sagen wir es so: Ich will versuchen, stärker Schwerpunkte zu setzen. So wie ich bisher Zeit investiert habe, ist das auf Dauer nicht durchzuhalten. Ich muss mir einen existenzsichernden Job suchen. Sonst wird mir, wenn ich Pech habe, auch noch das bisschen Aufstockung gestrichen. Wegen meines Engagements! Schon irgendwie verrückt. Auf diese Weise würgt die Politik selbst zivilgesellschaftlichen Einsatz ab.

Kann ein Dirk Stegemann überhaupt kürzertreten?

Das wird die Zukunft zeigen. Nur gibt es zu viele Probleme, zu denen man etwas machen müsste. Und am Ende setzt sich bei mir eben oft doch das Gefühl durch: Wenn ich jetzt nichts mache, macht es keiner, oder es passiert zu spät.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

0 Kommentare