GEDENKEN: Ein bisschen Schweigen
Während im Konzerthaus am Gendarmenmarkt ganz offiziell an die Opfer rechtsextremer Mörder erinnert wird, protestiert draußen eine Gruppe gegen Rassismus. An vielen Orten in der Stadt ist es um 12 Uhr still - oder auch nicht
Fast verschwindet es zwischen den TV-Trucks mit den riesigen Satellitenschüsseln: das kleine Grüppchen, das am Donnerstag parallel zur offiziellen Gedenkveranstaltung für die Mordopfer der rechten Terrorgruppe an einer Ecke des Gendarmenmarkts gegen Rassismus demonstriert. Von der Polizei auf dem Bürgersteig zusammengedrängt, verlesen die rund 80 TeilnehmerInnen die 182 Namen der Todesopfer, die rassistische Gewalt seit der Wende gefordert hat.
Der Protest richte sich nicht gegen den Gedenkakt, sagt Hamid Nowzari vom Verein Iranischer Flüchtlinge. "Wir treten gegen dessen eingeschränkte Sicht auf Rassismus auf." Der sei ein Problem der gesamten Gesellschaft, nicht von Randgruppen.
Während im Konzerthaus 1.200 Gäste John Lennons "Imagine" lauschen, heißt es draußen, der Staat könne sich nicht mit einer einzelnen Veranstaltung "aus der Verantwortung entlassen": "Seine Institutionen haben ermöglicht, dass die Morde geschehen konnten", so ein Redner.
An der Schweigeminute beteiligen sich die Demonstranten. Still ist es aber nicht: Busse, Touristen auf Elektrorollern und Lieferwagen übertönen das leise Glockenspiel, das um zwölf vom Französischen Dom erklingt. Als die Politprominenz das Konzerthaus verlässt, ist die Menge der Schaulustigen an den Gittern rund um den Platz größer als die Kundgebung. AKW
Im U-Bahnhof
"Sehr geehrte Fahrgäste! Die BVG beteiligt sich an der Schweigeminute zum Gedenken an die Opfer rechtsextremistischer Gewalt". Der Text flimmert über die Bildschirme des U-Bahn-Fernsehens und die Anzeigetafeln über den Bahnsteigen. Kurz vor zwölf wird er nach einem Gong mehrmals durchgesagt. Dann ist es so weit: Die Züge halten mit offenen Türen im Bahnhof Mehringdamm. "Ist nur kurz", sagt ein vorbeilaufender BVGler. Nach rund 40 Sekunden schließen sich die Türen wieder. Die meisten Fahrgäste sagen kein Wort während der Schweigeminute. Danach auch nicht. "Ich fands gut", sagt die 19-jährige Magdalena, als die U-Bahn weiterfährt. Sie habe erst durch die Ansagen von der Aktion erfahren. An der nächsten Station steigt eine Punkerin ein und durchbricht die Stille mit ihrer Gitarre und einer scheppernden Spendenbüchse. MOR
In der Schule
Die Mädchen kichern. Auf einem Flur der Sophie-Scholl-Schule in Schöneberg haben die fünf Neuntklässlerinnen gerade ein Plakat ihres Theaterkurses aufgehängt. Um Punkt 12 ertönt der Schulgong und die Türen zu den Klassenräumen gehen auf. Mit einer Ankündigung des Schulleiters über Lautsprecher beginnt die Schweigeminute. Es ist still. Lara, Miriam, Laura, Jana und Leonie lehnen stehend oder hockend an der Wand. Ihre Blicke wirken nachdenklich. "Mir sind in diesem Moment die Bilder vom Nationalsozialismus durch den Kopf gegangen", erzählt die 15-jährige Laura anschließend. "Und die Angst davor, dass sich das wiederholt." Miriam findet, dass die Mordserie zu wenig im Unterricht thematisiert wurde. "Es ist schade, wenn man nichts Genaueres weiß." Vor der Schule stehen zwei Oberstufenschüler und rauchen. Dass ihre Schule der Opfer gedenkt, finden sie gut. Innegehalten haben sie aber nur halb: Sie hatten eine Freistunde und schrieben Hausaufgaben voneinander ab. JOK
In der Universität
Der große Zeiger rückt auf zwölf - und nichts ist mit Schweigen im Foyer der Gebrüder-Grimm-Bibliothek der HU. Keine Durchsage, keine verstummenden Gespräche an den Tischen vor der Cafeteria - Berlins künftige Elite ist offenbar nicht im Bilde über die Gedenkaktion.
Im Kaufhaus
Bei Karstadt Leopoldplatz wird mitgeschwiegen. Jedenfalls behauptet das eine Lautsprecherstimme, zwischen Durchsagen für Winterschnäppchen und die neuen Toppings in der Kantine. "Wir ham jetzt Schweigeminute", belehrt die Verkäuferin an der Spielwarenkasse eine redselige Kundin. "Ich such aber das Halli-Galli-Spiel." Der Kunde ist König, auch in der Schweigeminute: "Wo ist denn das Halli-Galli-Spiel?", ruft die Angestellte quer durch die Abteilung. Eine Mitarbeiterin rattert mit einem Kleiderständer durch die Winter-Restposten. Die Musik dudelt weiter. MAH
Im Restaurant
Im Hasir an der Adalbertstraße ertönt um 12 Uhr leise türkische Musik. An den Wänden hängen Fotos deutscher und türkischer Politiker, die schon hier speisten. Auch Expräsident Christian Wulff, der eigentlich jetzt im Konzerthaus reden sollte, blickt auf den einzigen Gast herab. "Es gibt in Deutschland immer noch viele, die nicht verkraften, dass hier auch Migranten leben", sagt der türkischstämmige Gast und löffelt seine Tomatensuppe. "Ich glaube nicht, dass eine Schweigeminute hilft." Hikmet Kundakzi, der Geschäftsführer, findet den Gedenkakt sinnvoll: "Wir haben hier zwar keine Schweigeminute. Um diese Zeit ist ja auch nicht viel Betrieb." Andere Vertreter der Geschäftsleitung nähmen aber an der zentralen Gedenkveranstaltung teil. SAR
Im Hauptbahnhof
"Spandau, zurückbleiben bitte!" Auf Gleis 16 geht kurz vor zwölf alles seinen Gang. Menschen mit Rollkoffern hasten in S-Bahnen hinein. Keine Durchsage verweist auf die Schweigeminute. Franziska und Tobias haben trotzdem das Reden eingestellt. Es ist eher ein Pärchenschweigen: Er liest, sie guckt. Klar, die Fahnen auf Halbmast am Kanzleramt seien ihnen aufgefallen, doch sie kämen gerade aus Wien zurück und wüssten nichts. Andreas dagegen weiß Bescheid: Er spricht von den Angehörigen der Ermordeten: "Hoffentlich verlassen sie Deutschland nicht." Der 54-Jährige trägt zerrissene Jeans und Gummistiefel, lange, strähnige Haare fallen in sein Gesicht. Vor ihm stehen eine Reisetasche und drei Beutel. Wenige Sekunden vor zwölf hockt Andreas sich hin und kramt in seinen Sachen. Das ruft den Sicherheitsdienst auf den Plan. Pünktlich zum Beginn der kollektiven Stille belehren zwei Security-Leute Andreas über adäquates Verhalten auf Bahnsteigen. XLA
In Schöneweide
"Vielen Dank für Ihr Verständnis", schließt die Stimme in der Tram die Schweige-Ankündigung. Eine ältere Dame stöhnt demonstrativ und legt ihr Kinn in die Handfläche. Später versichert sie: "Ich war nicht genervt, nur in Gedanken." Das Schweigen sei sinnvoll: "Die Rechten muss man links liegen lassen." Die anderen Fahrgäste zeigen sich unbeeindruckt. Zwei Portugiesinnen quasseln weiter. Eine Schülerin tippt Textnachrichten. Die Tür öffnet sich erneut, eine Frau springt gehetzt herein und raschelt mit Einkaufstüten. Dann setzt sich die Straßenbahn in Bewegung. Nächster Halt: Brückenstraße. Die Nazikneipe Zum Henker ist nur ein paar Schritte entfernt. ARI
Im Abgeordnetenhaus
Eine Stunde nach der offiziellen Schweigeminute gedenken auch die Landesparlamentarier der NSU-Opfer - die Sitzung beginnt wie immer um 13 Uhr. Außerdem hat Parlamentspräsident Ralf Wieland (SPD) das Land im Konzerthaus vertreten. Um 12 Uhr haben einige Abgeordnete, vor allem von Grünen und Linkspartei, vor dem Parlamentsgebäude in Stille verharrt. Jetzt warnt Wieland in einer kurzen Rede davor, die Gefahr von rechts wegen der scheinbaren Bedeutungslosigkeit rechtsextremer Parteien zu unterschätzen: "Die sind nur die Spitzen der braunen Eisberge." Dann erheben sich die Abgeordneten. Eine Minute lang ist es tatsächlich vollkommen still. STA
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