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Soziologe über Italien"Dies ist ein wahnsinniges Land"

Der italienische Soziologe Nando Dalla Chiesa über Straffreiheit für Berlusconi, Montis Chancen, Wulffs Lappalien und den moralischen Spread.

"Lange vor Berlusconi hatte Italiens Politik ein gebrochenes Verhältnis zur Legalität". Bild: dpa
Michael Braun
Interview von Michael Braun

taz: Herr Dalla Chiesa, Berlusconi ist wieder mal davongekommen – der Prozess gegen ihn wegen Bestechung eines Rechtsanwalts wurde wegen Verjährung eingestellt. In seinem Lager wird das als Sieg gewertet. Mit ein wenig Abstand beurteilt: Freuen sich die Berlusconi-Jünger zu Recht?

Nando Dalla Chiesa: Das sind die, die auch gefeiert haben, als ein enger Vertrauter Berlusconis zu „nur“ fünf Jahren verurteilt wurde. Dies ist ein wahnsinniges Land, in dem selbst rechtskräftig Verurteilte gefeiert und auch noch als Verfolgte einer politisierten Justiz hingestellt werden. Auch jetzt stehen wir vor dem gleichen Phänomen – wie vor einigen Jahren schon, als Giulio Andreotti davonkam. Damals stellte das Gericht fest, dass er über Jahre hinweg mit der Mafia im Bund gewesen war – dass die Straftat jedoch verjährt war. Es gibt bei uns keinerlei Respekt mehr für den Sinn, für den Inhalt von Urteilen. Was heißt denn Verjährung? Dass da effektiv eine Straftat begangen wurde.

Juristisch also ein klarer Unterschied gegenüber einem Freispruch.

Ebenden hat Berlusconi nicht erhalten: Dass das Gericht ihn nicht freisprach, zeigt, dass es von seiner Schuld überzeugt ist.

In Italien heißt es aber immer, es gebe bei der Bewertung solcher Urteile nicht bloß die „juristische“, sondern auch die „politische Ebene“. Und auf dieser stelle der letzte Richterspruch ein „Unentschieden“ zwischen Berlusconi und den Staatsanwälten, ja ein „salomonisches Urteil“ dar.

Nando Dalla Chiesa

, geb. 1949, ist Professor für Soziologie der Organisierten Kriminalität an der Uni Mailand. Sein Vater, Carlo Alberto Dalla Chiesa, war Präfekt von Palermo und wurde 1982 von der Cosa Nostra ermordet.

Was soll hier „salomonisch“ heißen? Das Gericht hat keineswegs festgehalten, dass beide Seiten – Berlusconi und die Staatsanwälte – gleich dastehen. Es hat die Schuld des Angeklagten festgestellt, die aber leider keine Strafe mehr nach sich zieht, übrigens weil Berlusconi selbst als Regierungschef ein Gesetz zur Verkürzung der Verjährungsfrist durchgedrückt hat.

Wieso gibt es überhaupt diese feinsinnigen Unterscheidungen zwischen „juristisch“ und „politisch“?

Weil die Politik in Italien sich von der Ethik abgekoppelt hat. Wenn Berlusconi ein Verbrechen begangen hat, dafür aber nicht mehr bestraft werden kann, bleibt dennoch das ethische Problem – die Politik jedoch erklärt, dieses ethische Problem gebe es gar nicht. Ein Politiker sei nur dann rechenschaftspflichtig, wenn eine Verurteilung durch die Justiz erfolgt sei. Normal wäre es, wenn die Leute jetzt sagten, „was für eine Schande, er ist davongekommen, weil er sich selbst die Verjährungsfrist verkürzt hat“. Stattdessen wird jetzt die Einstellung des Prozesses so behandelt, als sei da seine Unschuld festgestellt worden. Die Politik hat ein System konstruiert, in dem der moralische Kompass abgeschafft ist.

Ist das ein Erbe der Berlusconi-Jahre?

Berlusconi hat vieles zugespitzt. Aber schon lange vorher hatte die italienische Politik ein gebrochenes Verhältnis zur Legalität; es scheint, als sei das die Erbsünde unserer Politik.

Sie erwähnten den Christdemokraten Giulio Andreotti, bis 1992 siebenmal Italiens Ministerpräsident.

27-mal wollte die Justiz gegen ihn ermitteln, 27-mal lehnte das Parlament die Aufhebung seiner Immunität ab.

Anderswo treten Staatspräsidenten zurück, wenn gegen sie Ermittlungsverfahren eröffnet werden.

Es war bezeichnend, wie die Affäre Wulff in Italien kommentiert wurde. Da hieß es im Corriere della Sera, seht mal, auch die anderen haben Probleme mit der Legalität, deshalb sollen uns die Deutschen gefälligst mit ihren Predigten verschonen. Der kleine Unterschied: Wulff trat umgehend zurück, wegen Geschichten, die hier bei uns als Bagatelle durchgegangen wären.

Sie sprachen vom schwierigen Verhältnis italienischer Politiker zur Legalität. Hilft ihnen nicht auch die tiefe Spaltung der italienischen Gesellschaft?

Gewiss. Die Italiener gehen auch Berlusconis Justizprobleme an, als seien sie Tifosi – dafür oder dagegen. Das rührt daher, dass wir es nicht schaffen, den Staat über die Parteien zu stellen. Bei uns waren es die Parteien, die nach der Resistenza gegen Hitler und Mussolini von 1945 an die Republik gründeten und danach immer ihr Primat gegenüber dem Staat reklamierten. Auch bei den Bürgern verankerte sich kein tiefer Staatssinn. Hinzu kommt, dass ein Gutteil der Gesellschaft sich in Berlusconi gerade dann widerspiegelt, wenn ihm illegale Machenschaften vorgeworfen werden. Der Steuerhinterzieher, der Unternehmer, der zu Bestechung greift: Sie identifizieren sich mit dem „verfolgten“ Berlusconi.

Jetzt ist Mario Monti am Ruder. Ändert sich etwas auf diesem Feld?

Zunächst einmal hat das ganze Land aufgeatmet, dass Berlusconi weg war. Ich selbst fühle mich als Italiener von Monti repräsentiert – von jemandem, der auch international respektiert ist. Ich weiß jedoch nicht, ob die Italiener insgesamt die neue Qualität dieser Regierung wirklich verstehen werden. Ein Teil der Rechten scheint weiterhin keinerlei Reue für die Berlusconi-Jahre zu empfinden. Auf der Linken dagegen heißt es oft, Monti sei ja bloß Statthalter der Banken – und da gerät schnell ins Vergessen, dass wir vor Monti Berlusconi hatten und dass auch nach Monti Berlusconi zurückkehren könnte. In diesem Land kann alles geschehen, wir haben ja schon gesehen, dass es keine Grenze für die Schande gibt. Italien braucht zuerst und vor allem – jenseits von rechts und links – eine Regierung, die Anstand zeigt.

Nicht umsonst sprechen ja italienische Kommentatoren auch von einem „moralischen Spread“, den das Land schließen müsse.

Monti ist in der Lage, diesen Spread zu verkleinern. Doch Monti agiert nicht allein, er findet sich in einem politischen System. In einem System, in dem viele Akteure sich durch Verhaltensweisen auszeichnen, die weitaus gravierender sind als die des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten. Bei uns gibt es die Kultur des Rücktritts nicht. Hier ist der Staat eine Sache, die man benutzt. Wir haben durchaus sehr viele treue Diener des Staates – aber eben auch viele, die sich des Staates bedienen. Und mein Eindruck ist, dass diese zweite Gruppe stärker ist.

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