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StadtlebenLiebeserklärung an Berlin

Eine Schreckensmeldung nach der anderen - kein Grund, den Blick für die beruhigende Vielfalt des Lebens in dieser Stadt zu verlieren, meint unsere Autorin

Hier lässt es sich leben Bild: dapd

Wer Berliner Zeitungen liest, kann eigentlich nur Pessimist werden. S-Bahn-Chaos, Gentrifizierung, Gewalt an U-Bahnhöfen und auf der Straße, Schuldenberg, Arbeitslose ohne Perspektive, Hauptstadt der Singles. Natürlich ist es die Aufgabe der Medien, über Fehlentwicklungen zu berichten. Und ich will sie auch nicht leugnen, diese soziale Härte, die Schieflagen, die metropolitane Kälte. Wer sein Hirn allerdings nur mit diesen Nachrichten füttert, riskiert eines: den Blick für das gute Leben in Berlin zu verlieren.

Das gibt es nämlich. Eine ungeheure Vielfalt des Lebens. Und eine Freiheit, die ich nicht missen möchte.

Manchmal gehe ich mit meiner Freundin händchenhaltend in Neukölln spazieren oder spießig shoppen in Steglitz. Der Normalfall ist: Niemand interessiert sich dafür. Das ist nicht überall so in Deutschland. In Paderborn oder anderen Kleinstädten gaffen die Leute. Da fühlt man sich wie ein seltenes Tier im Zoo.

Zugegeben: In Neukölln lassen wir beim Flanieren auch schon mal die Hände los angesichts Gruppen junger Männer, die wir schwer einschätzen können. Sicher ist sicher. Eine Exfreundin von mir musste sich hier schon mal den Satz anhören: „Dich hat man wohl vergessen zu vergasen.“

Trotzdem: Wer lesbisch ist oder schwul oder bisexuell oder sonst was außerhalb der Heteroordnung, muss deswegen fast überall in Berlin erst mal nichts befürchten. Alle dürfen hier so sein, wie sie sind. Zwei Millionen Touristen allein über Ostern in Berlin – die wollen doch nicht nur das Brandenburger Tor sehen. Die wollen vor allem mal an dieser großen Freiheit schnuppern.

Ich habe mal eine Zeit lang an einer Hochschule in Brandenburg gearbeitet. Alles war dort gut: tolle Studis, hochengagierte KollegInnen, ein Präsident mit Witz. Im wunderbaren Wald in der Nähe habe ich manchmal meine Mittagspause mit Vögelgezwitscher verbracht. Aber irgendwann hatte ich das Bedürfnis, mich nach Feierabend noch ein Stündchen in ein Berliner Café zu setzen. Ich wollte unbedingt andere Sprachen, andere Akzente hören und andere Menschen sehen. In Berlin werden 190 Sprachen gesprochen, davon sicher allein 15 in meinem Schöneberger Wohnhaus. Mich beruhigt das. Weil ich nur dort ein gutes Leben führen kann, wo für alle Platz ist, wo alle die Chance haben, frei zu atmen und ohne Angst zu leben.

Berlin ist nicht nur die Stadt der Vielfalt. Es gibt auch unzählige Möglichkeiten, sich politisch zu engagieren und lautstark einzumischen. Als ich 1983 als Studentin nach Berlin kam, wollte ich auch ziemlich bald mitreden. Mit anderen Frauen gründete ich eine feministische Liste, wir waren im AStA aktiv. Nach der Wende riefen wir ein antirassistisches Frauenaktionsbündnis ins Leben, weil wir schockiert waren von den Morden in Mölln. Wir wollten nicht tatenlos zusehen, sondern mit wöchentlichen Aktionen die BerlinerInnen wachrütteln. Wir wussten genau, was man tun müsste, um eine bessere Welt zu schaffen. Berlin war für so ein Engagement die beste Stadt der Welt.

Hat es mit dem Älterwerden zu tun? Heute gibt es für mich keine einfachen Lösungen mehr. Natürlich kann man ein bedingungsloses Grundeinkommen fordern. Aber ich bin mir sicher: Die Rufe nach mehr sozialer Gerechtigkeit würden auch dann nicht verstummen. Allein die Verteilung des Geldes, das Materielle ist nicht der Schlüssel. Es geht um die Frage, wie wir uns selber sehen, um unsere Wahrnehmung.

Seit ich an diesem Punkt angelangt bin, gehe ich weniger auf Demonstrationen, sondern richte meinen Blick mehr nach innen. Auch dafür bietet Berlin viele Möglichkeiten. Sieht man einmal von den teilweise verwaisten christlichen Kirchen ab, so haben vor allem die buddhistischen Zentren Zulauf. Es ist sicher kein Zufall, dass ich dort öfters auch alte Bekannte aus den aktionistischen Zeiten treffe.

Auch das ist das Gute an Berlin: Wer hier über Jahrzehnte lebt, kann immer wieder neu anfangen und sich weiterentwickeln – ohne alles Vertraute zu verlassen.

Gabriele Mittag, 49, Pressesprecherin aus Schöneberg, Genossin seit 2009

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3 Kommentare

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  • UK
    Uwe Krüger

    Danke, dass Sie den "Blick nach innen" thematisiert haben. Ich bin mit Ihnen einer Meinung, dass äußere Veränderungen wie Umverteilung materieller Güter nicht die Rufe nach mehr sozialer Gerechtigkeit verstummen lassen würden. Sie wären notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen für ein gutes, gelingendes, zufriedenes Leben - zu kollektiven Veränderungen muss auch individuelles "Aufräumen" treten. Dieser Gedanke mag allerdings in einem Milieu, in dem aktionistische, "selbstlose" Weltverbesserung die Regel ist, auf Widerstand stoßen.

  • K
    Kayoyo

    Hart formuliert: Sie könnten Ihre Freundin in Berlin vermutlich auch auf offener Straße verprügeln und keinen würde es interessieren.

     

    Das ist der Preis einer solchen Stadt. Keiner kümmert sich mehr um irgendwen, Anonymität ist der urbane Lebensentwurf.

     

    Nichts für ingut, aber da lebe ich lieber in einer Kleinstadt wie Paderborn (waren Sie eigentlich schonmal dort?). Dort gucken mir zwar auch ein paar Leute hinterher, aber ebensoviele zeigen auch ernsthaftes Interesse.

  • MB
    Michael Breitkopf

    Sehr geehrte Frau Dr. Mittag,

     

    es freut uns, daß es Sie freut, daß es Ihnen gut geht. Die Sozialberatung am Heinrichplatz wünscht Ihnen weiterhin buddhistische Gelassenheit und erfolgreiche Entwicklung.

     

    Tip: Es liegt nicht am Alter. Muß wohl was anderes sein.

     

    MfG, Michael Breitkopf