Heuschnupfen ist wie Rücken: Männer, die bei Pollen weinen
Es ist jedes Jahr das gleiche Leid. Monatelang. Drei Berichte von einem Untoten, einem Alleingelassenen und einem Geheilten aus den allergiebedingten Feuchtgebieten.
Das Leben als Untoter
Mein Leben als Zombie beginnt mit einem Stechen. Als schwebten Millionen mikroskopisch winziger Glassplitter in der Luft. Wenn ich nach durchschlafener Nacht die Augen aufschlage oder vielmehr aufreiße, weil mir ein klebrig-harter Film die Wimpern zusammengeschweißt hat, und sich des Tages erster Atemzug die Nasenwände hinaufbrennt bis zum Vorderhirn, dann weiß ich: Meine Verwandlung steht unmittelbar bevor.
Die folgende Zeit – manchmal Minuten, manchmal Stunden – sind kostbar. Ich probiere wenig Selbstmitleid, schmecke dem letzten Hauch der Hoffnung nach, es möge mich dieses Jahr nicht erwischen, und bade ein wenig in der Schuld verpasster Therapien. Kontakt zu mir selbst, es wird für zwei, drei Monate der letzte sein. Bald werde ich nichts mehr spüren.
Denn eine weiche, warme Masse flutet meinen Kopf, anfangs fühlt es sich noch wie Zuckerwatte an, sie verflüssigt sich aber schnell zu einer dicklich-trägen Masse. Mag der englische Poet John Donne auch festgestellt haben, der Mensch sei keine Insel – mein Hirn ist eine. Fett und rund schwebt es in in klebriger Melasse.
So beginnt das Leben als Untoter. Man läuft, man sieht die anderen, spürt die Sonne auf der Haut, und doch könnte das alles auch nicht da sein, so weit weg fühlt es sich an. Es ist Schlafen, Essen, Sex in einer Welt, die stets gepolstert ist – mal mit Wolle, mal mit Gelatine. Man dringt jedenfalls nicht hinaus zu denen da draußen.
Das ist der Heuschnupfen: Die umgangssprachliche Bezeichnung für eine Pollen-Allergie, unter der allein in Deutschland rund 16 Millionen Menschen leiden. Dabei reagieren menschliche Abwehrkörper übersensibel auf bestimmte Blütenpollen, die mit Augen oder Nase in Berührung kommen. Diese röten sich, jucken und schwellen an, um den Abwehrzellen durch bessere Durchblutung den Weg zum „Einsatzort“ zu ermöglichen. Das ständige Laufen, Niesen und Jucken der verstopften Nase kann so belastend für Betroffene sein, dass es zu Schlafstörungen und vor allem bei Kindern zu Konzentrations- und Lernstörungen kommen kann.
Dann kommt er: Ab Februar plagen Allergiker vor allem Pollen von Erlen und Haseln und die von Weiden, Pappeln und Birken von März bis Juni. Die meisten Allergiker haben jedoch Probleme mit Gräserpollen, die von Mai bis September auftreten. Auch im Herbst gibt es Pollenflug, besonders durch Kräuter wie Beifuß.
Das hilft: Neben medizinischen Präparaten wie rezeptfreien Antihistaminika helfen auch Hausmittel gegen manche Symptome: Nasenspülung mit Salzwasser etwa oder das Inhalieren von Wasserdampf. Lindernd wirkt außerdem, vor dem Zubettgehen die Haare zu waschen und bei geschlossenem Fenster schlafen – der Pollenflug beginnt nämlich schon ab 4 Uhr morgens. Stark Betroffene können sich auch einer ärztlichen Hyposensibilisierung unterziehen, bei der der Körper allmählich an die Reizauslöser gewöhnt wird. Eine derartige Behandlung dauert zwar mehrere Jahre, aber etwa 80 Prozent der Behandelten sind den Heuschnupfen dadurch endgültig los. (ew)
Es ist der Limbus, die Zwischenwelt, die Vorhölle: Man weiß, es gibt weit größere Qualen – aber dahin, wo es wirklich schön ist, kommt man auch nicht. Und ringsumher das Paradies, der Frühling. Dort ist alles mit Erwachen beschäftigt, und man selbst sinkt in einen unruhigen Schlaf. Man ist nicht krank, aber auch auf keinen Fall gesund. Der Körper wankt, der Geist verharrt tumb. Es ist kein Sterben, aber Leben will man diesen Zustand auch nicht nennen.
Zum Glück wird einem auch das egal, so wie vieles einfach an Bedeutung verliert, je länger die Zombiezeit dauert. Es gibt Momente, in denen zuckt das Hirn wahnhaft neurotisch, Schlafstörungen wahrscheinlich. Die anderen – so schwant mir –, das sind Pollenträger, sie bringen das Böse zu dir nach Hause, darum Quarantänezone im Flur einrichten, alle Sachen von draußen ausziehen und duschen, bevor wir überhaupt ans Reden denken können und dann …
Weckt mich, wenn es vorbei ist! Daniel Schulz
Selbst schuld
Heuschnupfen ist wie Rücken. Wer Rücken hat, bekommt Mitleid nur von denen, die auch Rücken haben. Die anderen schütteln den Kopf: Rücken ist doch keine Krankheit. Beim Heuschnupfen ist es ähnlich. Allergiker gelten oft als Hypochonder, als wäre Heuschnupfen eine Schwäche und keine Krankheit. Vielen Allergikern fällt es schwer, sich zu ihrer Krankheit zu bekennen. Zu oft hören sie ein stolzes „ich nicht“, wenn sie doch einmal zugeben, dass sie Heuschnupfen haben, als wäre es eine Leistung, keinen Heuschnupfen zu haben.
„Das hat es bei uns nicht gegeben“, sagt der gesunde Ostdeutsche, der gelesen hat, dass Allergien in der DDR nicht so verbreitet waren, wie sie es in der Bundesrepublik sind, und sagt damit nicht nur, dass nicht alles schlecht war seinerzeit, sondern irgendwie auch etwas gegen Wessis. „Dusch dich doch einfach ab“, sagt die Gattin dauernd zu ihrem niesenden Mann, so als ließe sich die Allergie zusammen mit den paar Pollen, die sich im Haar verfangen haben, einfach abspülen.
„Da musst du dich nicht wundern“, sagt das Gegenüber beim Kneipenabend, als würden die Augen zu tränen aufhören, wenn man das bestellte Bier durch ein Glas Karottensaft ersetzen würde. „Selber schuld!“ – so direkt sagt das zwar keiner, aber jeder Allergiker versteht, was viele Gesunde auch sagen, wenn sie vermeintlich gut gemeinte Ratschläge geben.
Und am Ende ist der Allergiker ziemlich allein, wenn er die Ratschläge befolgt, die er jedes Jahr wieder in der Apothekenrundschau liest, die er mitnimmt, wenn er seine Medikamente abholt. Es ist in Wahrheit nur ein Rat: „Halten Sie sich von Pollen fern!“ Das macht einsam. Wer verbringt schon gerne einen lauen Frühsommerabend beim Allergiker auf dem hausstaubmilbenabweisenden Kunststoffledersofa bei geschlossenen Fenstern, statt mit normalen Menschen in den Biergarten zu gehen?
Und wer geht bitte sehr bei 30 Grad im Schatten zusammen mit dem Allergikerfreund in ein fensterloses Kellertheater, um zusammen mit drei anderen Zuschauern einem ambitionierten Off-Stück beizuwohnen, dessen Schauspielern man anmerkt, dass sie diesen Sommerabend selbst viel lieber irgendwo draußen verbringen würden? Und dass niemand mitkommt auf ein pollenarmes Bierchen im U-Bahn-Tiefgeschoss oder zum Picknick auf der asphaltierten Verkehrsinsel einer Stadtautobahn, das wundert Allergiker nicht. Sie machen es selbst nicht gerne. Andreas Rüttenauer
Geheilt!
„Die Hygiene-These besagt, dass die arbeitslosen Abwehrkörper sich neue Feinde schaffen.“ So weit, so geil, so Wikipedia: Was ist das für eine geniale Formulierung! Was einem da alles zu einfällt. Der Verfassungsschutz zum Beispiel, der ganze Sicherheitswahn. Aber wollen wir nicht mit dem Thema anfangen? Ich bin geheilt. Ich habe keinen Heuschnupfen mehr. Seit vier Jahren.
Als damals die Bäume grünten und die Akazienpollen lustig durch die Gassen tollten, ging ich zu meiner Ärztin. Ich sah mich schon als reichen Mann. Irgendein besonderes Gen musste ich doch haben, dass ich jetzt plötzlich gesund war. Mein Ärztin würde es mir abzapfen, daraus würde ein Medikament „generiert“ und dann: endlich ein wenig Luxus in meinem Leben!
Weit gefehlt. Dass jenseits der vierzig die Pflanzenallergie verschwinde, sei so normal wie Erektionsstörungen. Sagte mein Ärztin. Und sah mich über den Rand ihrer Lesebrille kopfschüttelnd an.
Also blieb ich einfach nur geheilt. Und das ist ja nun nicht wenig. Der Heuschnupfen hat mir zumindest eine Liebesbeziehung – und weiß Gott nicht die unwichtigste – kaputt gemacht. Denn wenn zwischen März und Juli morgens um sieben erst mal zwanzig Mal geniest wird, dann ist das Ehebett kein Ort der Lüste oder wenigstens der Freundlichkeiten mehr, sondern ein Pfühl des Hasses. Mir ist ein Fall bekannt, wo die Niesattacke einen Bandscheibenvorfall auslöste, der zu monatelangem Nicht-die-Wasserkästen-Hochtragenkönnen führte; und das überleben moderne Ehen nur ganz selten.
Aber um mit Qualtingers „Der Herr Karl“ zu sprechen: „Es hat auch schöne Momente gegeben.“ In Italien betrat ich einst eine Farmacia, schilderte mein Problem und bekam ein gelbes Schächtelchen. Lecker – vor allem zusammen mit einer Flasche Brunello. Irgendwo zwischen Benzedrin und Rüganer Bio-Grass; eben ganz eigenartige Wirkung (als Nebeneffekt ging auch der Heuschnupfen weg). In Deutschland trabte ich mit der Packung für Nachschub in die Apotheke. Der Medizinmann musterte mich wie ein bayerischer Polizist einen schwarzafrikanischen Drogendealer. Nein, ich hatte kein Rezept; und bekam auch keines.
Und nun? Ist es schon so weit gekommen, dass ich gar nicht mehr richtig mitleiden kann, wenn jemand sich beklagt und sich nicht am Frühling freut. Wenn ich mich dann zu FDP-mäßig fühle im Verhältnis zu den Heuschnupfenopfern, gehe ich zu Freunden. Die haben zwei Katzen: echte Drecksviecher! Ambros Waibel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Thüringen auf Koalitionskurs
Wagenknecht lässt ihre Getreuen auf Wolf los
Schließung der iranischen Konsulate
Die Bundesregierung fängt endlich an zu verstehen
Jaywalking in New York nun legal
Grün heißt gehen, rot auch
Unwetterkatastrophe in Spanien
Vorbote auf Schlimmeres
Steinmeiers Griechenland-Reise
Deutscher Starrsinn
Autoritäre Auswüchse beim BSW
Lenin lässt grüßen