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Die WahrheitDIE BLOCKSTELLE DER WIRKLICHKEIT

Kolumne
von Eugen Egner

Zum Zwecke der Recherche wichtiger autobiografischer Details reiste ich mit dem Zug an den Ort, in dem ich geboren war und meine frühe Kindheit verbracht hatte.

Z um Zwecke der Recherche wichtiger autobiografischer Details reiste ich mit dem Zug an den Ort, in dem ich geboren war und meine frühe Kindheit verbracht hatte. Der Wagen, in dem ich saß, war bis auf mich leer. Dieser Umstand hätte mir erlaubt, ungestört Mundharmonika zu spielen, doch ist das nicht meine Art, ich besitze auch kein solches Instrument. Mein Vater hatte einst eine Mundharmonika gehabt, und sie war vor Jahren mit ihm begraben worden.

Ungefähr eine halbe Stunde vor meinem Fahrtziel hielt der Zug auf offener Strecke. Zunächst nahm ich die Verzögerung ohne Weiteres hin, als sie sich dann aber auffällig in die Länge zog, wurde ich ungeduldig und begann, den Kopf hin und her zu drehen. Es fehlte nicht viel, und ich hätte ein Fenster geöffnet. Da kam der Schaffner durch den Gang gelaufen. Als er mich sah, blieb er stehen und sprach: „Der Zug endet hier. Steigen Sie bitte aus.“

„Der Zug endet hier?“, empörte ich mich und fügte an, wohin ich zu reisen gedachte. Bedauernd erwiderte der Schaffner, das sei zurzeit nicht möglich. Ich fragte nach dem Grund für diese Unmöglichkeit. „Kommen Sie mit, ich zeige es Ihnen“, sagte er. Verärgert nahm ich meine Reisetasche und folgte ihm ins Freie.

Auf dem knirschenden Schotter schritt er voran zur Lok. Da sah ich es dann: Etwa zehn Meter vor uns endeten die Schienen an einem riesigen gemalten Hintergrund, um auf diesem zweidimensional (und perspektivisch durchaus überzeugend dargestellt) weiterzuverlaufen, bis sie sich im Unscharfen verloren.

„Könnte Brahms dahinterstecken?“, fragte ich unwillkürlich. „Möglich“, meinte der Schaffner, „der lässt auch ganze Züge mit Dynamit füllen.“

Doch war mir damit auch nicht geholfen, und ich wollte wissen, wie ich nun ans Ziel meiner Reise gelangen solle. Der Schaffner antwortete, ich müsse mich gedulden, bis die Landschaft wieder dreidimensional werde. Um die Wartezeit zu überbrücken, suchten wir die nahegelegene Blockstelle auf. Unterwegs erfuhr ich, der Blockstellenwärter habe einen zweiten, viel kleineren Kopf, der ihm zwischen den Schulterblättern herausgewachsen sei, nachdem er sich dort jahrelang nicht richtig gewaschen hatte. Auch zitierte der Schaffner berühmte Worte des Blockstellenwärters: „Meine Trunksucht funktioniert auf den Punkt genau“ und „Ich esse ein Brot nach dem anderen“.

Wir trafen ihn dann aber nicht persönlich an. Seine Tochter zeigte uns seinen Arbeitsplatz. Verdächtig war, dass ein gerahmtes Brahms-Porträt an der Wand hing. Wir sahen uns alles an, den kleinen Tisch, auf dem das Streckentelefon stand, die Weichen- und Signalhebel, das Blockwerk mit Kurbel, die Wanduhr und den ganzen anderen Mist.

„Was Sie hier sehen, ist die Schaltstelle der Wirklichkeit“, belehrte uns die Tochter des Blockstellenwärters, „mein Vater kann die Landschaft nach Belieben zwei- oder dreidimensional werden lassen.“

Ich glaubte ihr kein Wort, garantiert waren das falsche Fährten, von keinem anderen gelegt als von Brahms.

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1 Kommentar

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  • BT
    Bahnwärter Thiel

    Nicht Brahms. Es war Bob Dylan mit »It Takes a Lot to Laugh, it Takes a Train To Cry.«