Kolumne Lidokino: Kreuze auf den Augen
Masturbation mit dem Kuzifix und Sterbehilfe: Katholische Eiferer gehen in Venedig gegen die Wettbewerbsfilme von Seidl und Bellocchio vor.
M artin Mosebach hätte seine Freude, wäre er in diesen Tagen in Venedig. Zwar müsste er sich als frommer Katholik bei der Filmbiennale einiges gefallen lassen, doch umso beglückter könnte er zur Kenntnis nehmen, wie standhaft sich die Gläubigen wehren.
Vor ein paar Tagen etwa erregten sie sich über Ulrich Seidls Wettbewerbsfilm „Paradies: Glaube“, den zweiten Teil einer ehrgeizigen Trilogie, in dem man der von Maria Hofstätter gespielten Protagonistin dabei zusehen kann, wie sie sich geißelt oder mit einer Wandermuttergottes unterm Arm durch die verelendeten Gegenden Wiens wandert, um Ungläubige zu missionieren.
In einer Szene tut sie etwas, was man als Masturbation mit einem Kruzifix verstehen kann. Gotteslästerung, fand die katholische Organisation NO 194 und hat den Regisseur, die Hauptdarstellerin, die Produzenten und Alberto Barbera, den Leiter der Mostra, angezeigt. Der Anwalt der Katholiken bedauerte, dass es, wenn überhaupt, nur zu einer Geldstrafe komme. Er möchte Seidl im Gefängnis sehen. Seit Donnerstagabend gibt es neue Aufregung.
Ein Fall von Sterbehilfe
Marco Bellocchios Wettbewerbsbeitrag „Bella Addormentata“ („Schöne Schlafende“) kreist um einen Fall von Sterbehilfe, der in Italien seinerzeit viel Unruhe stiftete. Im Februar 2009 wurden bei Eluana Englaro die lebenserhaltenden Maßnahmen eingestellt, nachdem sie 17 Jahre im Koma gelegen hatte. Dies geschah auf Wunsch ihres Vaters und auf Anraten der Ärzte.
Die katholische Kirche lief Sturm, der damalige Ministerpräsident Berlusconi versuchte, im Schnellverfahren ein Gesetz gegen Sterbehilfe durchzusetzen, Anfang 2010 wurde der Vater der Patientin vor Gericht von allen Vorwürfen freigesprochen. Im Film selbst geht es kaum um diesen Fall, er ist wie eine leere Mitte, ein Nachrichtenrauschen im Bildhintergrund, um das herum der Regisseur mehrere fiktive Erzählstränge gruppiert.
Bellocchio erreicht dabei nicht seine gewohnte Form, er nutzt die unterschiedlichen Figuren zu sehr als Sprachrohre für bestimmte Positionen, und er findet nur selten – etwa bei einer Besprechung von Senatoren, die in einem Badehaus stattfindet und in einem kecken Anachronismus die Zeiten des Alten Roms wachruft – zu dem Überschuss, den man zum Beispiel aus seinem Film „Vincere“ (2009) kennt.
Wer freilich in „Bella Addormentata“ ein Pamphlet zugunsten von Sterbehilfe sehen möchte, braucht Kreuze auf den Augen. Trotzdem stellt sich am Donnerstagabend eine Gruppe von etwa 20 Katholiken auf den Lungomare und verlangt, dass der Film aus dem Festivalprogramm verschwindet.
Ein paar Schritte weiter geht Bellocchio über den roten Teppich vor der Sala Grande, hier verteilt ein älterer Mann Handzettel: „Der Film tötet Eluana zum zweiten Mal.“ Eine Frau trägt auf ihrem Rücken ein gelbes Plakat: „Eluana wollte und musste leben“, steht da auf Französisch, Englisch, Spanisch, Deutsch und Italienisch, von einem Foto Eluana Englaros und einem Bild der Jungfrau Marias flankiert.
Die Carabinieri stehen ein paar Meter entfernt und passen auf, dass nichts passiert. Und ich selbst? Wünsche mir ein bisschen blauäugig, dass es einen Ausweg aus den Reiz-Reflex-Reaktionen der Kirchenkritik und -verteidigung gibt, damit ich mit wachem, unverstelltem Blick ins Kino gehen kann – wo dann zum Beispiel ein beeindruckender Film des philippinischen Regisseurs Brillante Mendoza läuft, „Sinapupunan“ („Thy Womb“).
Es geht um ein kinderloses Paar, der Mann möchte eine Zweitfrau nehmen, um Nachwuchs zu bekommen, seine Ehefrau willigt ein. „Sinapupunan“ schaut sich sehr genau an, wie fürchterlich es ist, wenn man das Wollen und das Müssen zur Deckung zu bringen versucht.
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