Sprengel-Museum in Hannover: Beton gewordene Gesinnung
Nach 1945 bauten jene Architekten die deutschen Städte wieder auf, die bereits während der Nazi-Diktatur tätig waren. Der Fotograf Arne Schmitt hat diese Bauten dokumentiert.
BRAUNSCHWEIG taz | Eine „Stunde Null“, also den vollkommenen Neubeginn nach der Kapitulation des Deutschen Reiches am 8. Mai 1945, hat es nie gegeben. Die Kontinuitäten in Justiz, Politik, Wirtschaft und Kultur sind hinlänglich erforscht und belegt. Und auch der Wiederaufbau der kriegszerstörten deutschen Städte begann bekanntermaßen auf den Zeichentischen auch zuvor aktiver Planer und Architekten.
Der junge Fotograf Arne Schmitt ist dieser Entwicklung nachgegangen: Für seinen Fotoessay „Wenn Gesinnung Form wird“ fotografierte er Nachkriegsarchitektur in deutschen Städten. Präsentiert wurde die Publikation vom hannoverschen Sprengel-Museum, das derzeit Arbeiten aus dem Projekt in einer Ausstellung zeigt.
Die planerischen Anfänge der Nachkriegsarchitektur reichen zurück ins Jahr 1943: Bereits zwei Jahre vor Kriegsende hat Hitlers Generalbauinspektor Albert Speer einen zentralen „Arbeitsstab für den Wiederaufbau bombenzerstörter Städte“ unter seiner Leitung eingerichtet.
Man pflegte durchaus den internationalen Erfahrungsaustausch. Überliefert ist eine informative Rundreise des finnischen Architektenverbandes SAFA durch Deutschland im selben Jahr. Vorsitzender und Reiseleiter damals: Alvar Aalto.
Die unter Speer arbeitenden Architekten und ihre Wiederaufbaukonzepte spielten noch Jahrzehnte nach Kriegsende eine führende Rolle im westlichen Nachkriegsdeutschland – ohne Speer selber, der bis 1966 in Spandau inhaftiert blieb.
Dass sich das planerische Gedankengut sowie ihre Protagonisten so widerspruchslos in die Wirtschaftswundermentalität ab etwa 1950 integrieren ließen, hat nicht nur mit alten Seilschaften und ideologischer Persistenz in den entscheidenden Institutionen zu tun.
Denn auch während des Dritten Reiches blieb in der Architektur der Funktionsbauten die Bauhausmodernität vorbildlich, wurden industrialisierte Baukonstruktion und rationalisierte Baudurchführung aus der Zwischenkriegszeit adaptiert und perfektioniert. Lediglich um völkisch-pathetische Überhöhungen musste also die Baugestalt nach 1945 bereinigt werden.
Ingenieure und Architekten, vielleicht ohnehin nicht die emsigsten Parteigenossen, konnten ohne große Unterbrechung weiterarbeiten. Der Architekturhistoriker Werner Durth hat ab den 1980er-Jahren umfangreiche publizistische Basisarbeit zum Thema geleistet. Eines seiner Bücher widmete sich den biografischen und politischen Verflechtungen deutscher Architektengenerationen zwischen 1900 und 1970.
Nun ist der junge Fotograf Arne Schmitt diesem Phänomen nachgegangen. „Verflechtungen“ nennt er seine derzeitige Installation im Raum für Fotografie des Sprengel-Museums Hannover in Analogie zu Werner Durths Buch.
Schmitt, 1984 im Raum Koblenz geboren und gerade wieder Richtung Köln zurückgezogen, hat sich für eine länger angelegte Fotostudie mit der Nachkriegsarchitektur in mehreren Städten Westdeutschlands beschäftigt. Ihn trieb auch schon vorher ein Interesse an dieser landläufig verschrienen Phase westdeutscher Bauproduktion an: ein Thema, dem er nach eigenen Angaben noch Jahre weiterarbeiten kann. Seine Abschlussarbeit an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig bündelte dann 2011 die Ergebnisse zu 29 Fotoessays mit insgesamt 282 klassischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen, allesamt undramatisch, in nüchtern dokumentarischem Stil.
Derzeit erfährt in einer jüngeren Generation von Künstlern und Architekten die Architektur der 1960er-Jahren eine neue Beachtung. Zum einen scheinen sie ein Formenvokabular interessant zu finden, das konträr zum aktuellen Energiespar- und Dämmwahn die geradezu frivole Großzügigkeit an Raum, Transparenz und mannigfaltiger Durchlässigkeit zum Außenraum propagierte. Selbst wenn sich viele der Bauten aus der Zeit mittlerweile in desolatem Zustand befinden, ist dieser Surplus über die primäre Bedarfserfüllung hinaus noch überall zu spüren.
Entscheidender scheint jedoch zu sein, dass der ästhetische Kanon dieses Bauens keine künstlerische Selbstreferenz war, sondern getragen wurde von einem gesellschaftlichen Fortschrittsglauben, der alle Lebensbereiche erfasste – und in Bauten und städtischen Ensembles seine präsentesten und beharrlichsten Manifestationen fand. Eine Fülle von Verwaltungs-, Kultur- und Bildungsbauten sowie Infrastruktureinrichtungen prägt nach wie vor die westdeutschen Innenstädte.
Wegen ihrer latenten Programmatik wird diese Architektur häufig gehasst von der Generation 65 plus. Der Nachwuchs aber sichtet sie neu. Folglich gab Arne Schmitt seiner Abschlussarbeit in Leipzig, die anlässlich der Ausstellung in Hannover jetzt auch in Buchform vorliegt, den Titel „Wenn Gesinnung Form wird“.
Der Begriff „Gesinnung“ ist allerdings problematisch, er fasst die sittliche Grundhaltung eines Menschen, sofern sie sein Denken und Handeln bestimmt. Aber was war die sittliche Grundhaltung der Planer und Architekten, die im Wiederaufbau ihr Formwollen umsetzten? Und gab es denn eine kollektive Gesinnung?
Nicht eine, sondern mehrere verschiedene Gesinnungen möchte Arne Schmitt in den Bauartefakten sehen: Es stünden ja immer Prinzipien hinter der Form. Ein Kapitel im Buch heißt „Reste des Authentischen“ – wiederum eine Analogie, diesmal zu einer Fotoausstellung 1986 im Folkwang-Museum Essen. Es zeigt ironischerweise aber gerade keine authentischen Relikte, sondern das nachgebaute Braunschweiger Shoppingschloss oder die Fachwerkattrappen am Frankfurter Römerberg, mithin Tiefpunkte der Baukultur.
Arne Schmitts Installation in Hannover umfasst 14 Fotos, ohne Rahmen nur mit einer Glasplatte und vier Nägeln an den Wänden fixiert. Dazu kommen Biografien von sieben Architekten, die schon während des Dritten Reichs auf verantwortlichen Posten tätig waren.
Die Präsentation ist genauso delikat wie die schöne Publikation. Doch scheinen die isolierten Fotos der Ausstellung, aber auch die Bildessays alleine das Thema nicht greifen zu können. Eine gute architekturtheoretische Verortung wäre notwendig. Diese gelingt nicht so recht.
Aber immerhin: ein omnipräsentes Thema wird mit Empathie in keineswegs naiver Haltung von einer jungen Generation angesprochen. Das allein ist schon ein Verdienst. Das Projekt bedarf jedoch der Fortsetzung.
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