Berlinbuch: Umsteigen im ewigen Provisorium
Auf dem Weg durch die Stadt mit Hanns Zischlers neuem Buch „Berlin ist zu groß für Berlin“.
S 5 Richtung Spandau. Heerstraße. „Einsteigen, bitte“ – „Zurückbleiben, bitte“ – „Nächste Haltestelle: Jesse-Owens-Stadion“ – „Next Stop: Jesse-Owens-Stadium“
Im Westen beginnt mein Versuch, Berlin mit Hanns Zischler zu begreifen. Ginge es nach ihm, stiege ich nicht am Olympiastadion aus. Denn in seinem Buch heißt das Rund Jesse-Owens-Stadion – nach dem schwarzen US-amerikanischen Sportler, der als vierfacher Olympiasieger bei Hitlers Olympiade 1936 erfolgreich war und die Rassenideologie des NS brüskierte. „Eine Sauerei, dass das noch Olympiastadion hieß. Aber ich hab’s ja jetzt umbenannt. Ab jetzt ist es klar. Da muss ich nicht mehr intervenieren“, sagt Hanns Zischler.
Das Areal im Charlottenburger Westen erinnert wohl mehr als jedes andere in der Stadt an die Hitlerzeit: Das Stadion, das Maifeld, das Eingangsportal mit den olympischen Ringen, die Skulpturen von Arno Breker. „Es war der Schauspieler Daniel Craig, der die Umbenennung vorgeschlagen hat. Er hat das sogar zu Klaus Wowereit gesagt. Craig hat ihn gefragt: Warum heißt das nicht Jesse-Owens-Stadion? Warum nimmt der diesen Vorschlag nicht auf?“, fragt Zischler.
Zurück zum Westkreuz. Umsteigen. Innehalten
Der Schauspieler Hanns Zischler hat ein großartiges Buch geschrieben. „Berlin ist zu groß für Berlin“ heißt es. Es ist ein Foto-Text-Essay zum Stadtbild Berlins – ein Text, der Stadtgeschichte erzählt. Das, was ist und war, stellt Zischler darin immer wieder dem gegenüber, was sein könnte und hätte sein können. Zischlers Herangehensweise darf man schon archäologisch nennen, weil er Fundstücken, mündlichen, schriftlichen Überlieferungen, aber auch architektonischen Überresten nachgeht, mit denen er frühere Stadtbilder und Gesellschaftsformen rekonstruiert. So erkundet er das „führungs- und konzeptlose Architekturmuseum“, als das die Stadt da einmal bezeichnet wird.
Ringbahn. „Nächste Haltstelle: Halensee“
Hier irgendwo muss der Lunapark gewesen sein. Auch seinen Überresten spürt Zischler nach – ohne Erfolg. Er findet immerhin noch eine schöne alte Abbildung des Vergnügungsparks, der 1935 „dem Erdboden gleichgemacht“ wurde, weil die Nazis ihn als „Schandfleck des Westens“ ansahen. Hier also soll ab 1909 Europas größter Vergnügungspark gestanden haben, in etwa das Coney Island des alten Kontinents? Man ahnt von der „fantastischen Jahrmarktsarchitektur“, wie Zischler sie nennt, nichts mehr.
Weiter auf der Ringbahn
Zwischen Südkreuz und Tempelhof, auf Höhe der Boelckestraße, durchquert man die geplante Nord-Süd-Achse, die Hitler und Speer durch Berlin ziehen wollten. Berlin ist auch NS-Museum. Im Buch ist die Achse dokumentiert. Zischler: „Neben allem anderen Wahnsinn war es natürlich auch städtebaulicher Wahnsinn, was die Bürogemeinschaft Hitler/Speer fabriziert hat. Die Idee mit der Nord-Süd-Achse durch Berlin war geklaut, sie war viel älter – und von der Grundidee war sie richtig. Aber die Monumentalisierung war ungeheuerlich. Die Ausdehnung des Straßenprofils – das wären, glaube ich, 160 Meter gewesen – wäre zertrümmernd gewesen.“
Ringbahn. Umsteigen Tempelhof. U 6 Alt-Tegel. „Nächste Haltstelle: Platz der Luftbrücke/Tatlin-Turm“
Am Platz der Luftbrücke erreicht man den nächsten Ort, an dem die Nazizeit als Monument präsent ist. Ernst Sagebiel, SA-Mitglied, errichtete hier ab 1936 das damals größte Gebäude der Welt am Flughafen Tempelhof. „Was passiert mit dem Bau? Wie könnte man den nutzen?“, müsste man sich fragen, so Zischler.
Das dahinter liegende Tempelhofer Feld ist die derzeit größte innerstädtische Freifläche Europas. Zischler kann sich eine freie Bürgernutzung wie derzeit nicht dauerhaft vorstellen: „Absolut verschenkter Raum“, sagt er. Er wünscht sich einen städtebaulichen Anschluss zwischen Neukölln und Tempelhof. „Es gibt keinen Mangel an Grün in Berlin“, sagt er. „In Berlin gibt es eine kultische Baumverehrung, die fast animistische Züge hat.“ Zur Zukunft des Feldes sagt er: „Eine gute Stadtplanung müsste in der Lage sein, innerhalb der neuen Gegebenheiten, die sie entwickelt, auch Freiheiten zu ermöglichen. Anything goes funktioniert da nicht.“
Ginge es nach ihm, würde auf dem Tempelhofer Feld in Zukunft der sogenannte Tatlin-Turm errichtet, ein nie realisierter, 400 Meter hoher Turm, der geometrische Körper in sich trägt, eine architektonische Utopie des russischen Avantgarde-Künstlers Wladimir Tatlin aus dem Jahr 1917. „Ich meine das ernst mit dem Tatlin-Turm. Ich will nicht wieder Schrebergärten dort. Die sind schon in der ganzen Stadt und die sind auch richtig dort. Man müsste dem Sagebiel-Bau etwas entgegensetzen. Es kann nicht sein, dass man ignorant ist gegenüber dieser extrem gewalttätigen Architektur.“
U 6 Alt-Tegel, bis Hallesches Tor. Umsteigen. Warten
Zischler sucht in „Berlin ist zu groß für Berlin“ noch zahlreiche andere Orte auf: Er beginnt beim Berliner Urstromtal, meditiert über die geologische und mentalitätsgeschichtliche Unstetigkeit Berlins. Er sucht den Schutt unter der Grasnarbe am Teufelsberg. Er erinnert an den Passfälscher Oskar Huth, er heftet sich einem Straßenbegeher an die Fersen. Mit der Kurzbiografie der jüdischen Dichterin Gertrud Kolmar spürt er einem weiteren NS-Schicksal nach. In einem Kapitel widmet er sich gar Kinderspielen in Berlin. Kinder toben auch hier am Bahnsteig umher, bis es heißt „Zurückbleiben, bitte“.
U 1 Richtung Uhlandstraße. „Nächste Haltstelle: Gleisdreieck“
Kurzer Abstecher zum Gleisdreieck. Wie weit sind denn die da eigentlich mit ihrem Park? Den Ostpark gibt es bereits seit Ende 2011, mit dem Westpark soll die Grünanlage, die eine Verbindung zwischen Kreuzberg und Schöneberg bildet, im Herbst dieses Jahres fertiggestellt werden. „Der Park am Gleisdreieck ist toll. Er schafft es, die industriellen Überbleibsel in die neue Erscheinung einzubinden. Das müssen Sie im Kontrast sehen zu der grauenhaften Aufhäufung, dieser Schräge am Potsdamer Platz. 600 Meter lang. Man kann nicht drauf sitzen, man kann gar nichts machen. Ein falsches Monstrum.“
U 2 Richtung Pankow. „Nächste Haltestelle: Alexanderplatz“
Die Sackgasse der Stadt? Der Alexanderplatz scheint eine der vielen vergebenen Chancen dieser Stadt zu sein. „Man kann ankommen, aber nicht wegkommen. Er gibt keine Eröffnungschancen. Es ist wie ein Schachspiel, bei dem man sagt, man fängt erst beim siebten Zug an“, sagt Zischler. In seinem Buch bezeichnet er den Alexanderplatz als „Leistenbruch“ der Stadt. Wenn man mit der S- oder U-Bahn hier ankommt, mag einen das noch zum Verweilen auf dem Alexanderplatz einladen, aber der Platz ist nicht der Ort, der den Fahrrad- oder Autofahrer sanft in den Ortsteil Mitte gleiten lässt. Als Verbindung Friedrichshain–Mitte beziehungsweise Prenzlauer Berg–Mitte sei er denkbar misslungen, sagt Zischler. Wie so viele Plätze Berlins. Also lieber weiter.
S 3 Richtung Erkner. „Nächste Haltstelle: Warschauer Straße“
Zur Warschauer Brücke sagt Zischler interessanterweise im Buch nichts, dabei ist es doch einer jener Orte, der stark polarisiert und zu dem jeder ad hoc eine Meinung äußern könnte. Etwa: zu voll, zu laut, zu schrill. Beschreitet man die Brücke in Richtung Schlesisches Tor, erreicht man kurz darauf die Oberbaumbrücke. Zischler blickt im Buch von der andern Seite, von der Elsenbrücke aus, in diese Richtung: „In der Ferne die backsteinrote, märchenhaft turmbewehrte Oberbaumbrücke.“
Zur Rechten sieht man zuvor aber schon die East Side Gallery. An ihr wird der Streit um Architektur, um das kollektive Gedächtnis im Stadtbild bereits wieder virulent. „Ich finde diesen Streit symbolisch wichtig. Mein Gott, ob der kleine Streifen nun da steht oder nicht. Darum geht es nicht. Es werden zu oft Sachen einfach so hingeknallt.“
S 3 Richtung Erkner. „Nächste Haltstelle: Ostkreuz“
Die Reise endet am Ostkreuz. Zischler freut sich auf 2016, wenn der neue Bahnhof fertig ist, wenn der „Hundekopf“ dort wieder intakt ist. Er spielt auf das Gebiet innerhalb der Ringbahn an, das gerne als Hundekopf bezeichnet wird. Der Hund wird am Ostkreuz gerade am Hinterkopf operiert.
Berlin operiert sich ständig, auch das ein Grund, warum Zischler dieses Buch geschrieben hat: Das ewige Provisorium Berlin. Er nennt es wahlweise „Ausdehnungshunger“, „Baulust“ oder „Bauwut“, die die Stadt ergreift. An einer Stelle zitiert er einen Satz Karl Schefflers, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein bedeutender Kunstkritiker war. Dieser sagt: „Das Stadtbild gehört uns.“ Ein Satz, von dem „Berlin ist zu groß für Berlin“ geprägt ist. „Ein ganz toller Satz. Darauf müsste man bestehen“, sagt Zischler.
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