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Schutz der Privatsphäre beim taz.labDie Krise des Eros

Bedacht, aber ereifert. Der Autor Byung-Chul Han spricht über das Verschwinden des Anderen und den Terror der Intimität. Er wünscht sich das Pathos der Distanz.

Byung-Chul Han - Er plädiert für den Schutz der Privatsphäre Bild: Merve-Verlag
Interview von Sophie Fredau

taz.lab: Herr Han, seit Februar strahlt RTL die Show „7 Tage Sex“ aus. Paare verpflichten sich dazu, eine Woche lang an jedem Tag miteinander Sex zu haben - mit dem Ziel, verlorengegangene Nähe wiederherzustellen. Warum gibt es eine solche Sendung?

Byung-Chul Han: Das ist eine weitere Art von „Big Brother“. Solche Sendungen verstärken die Tendenz der Gesellschaft, Intimitäten auszustellen und zu veröffentlichen. Da kann man fast vom Terror der Intimität sprechen. Heute ergießen sich die Intimitäten in den entleerten öffentlichen Raum. Ja, die Intimitäten entleeren den öffentlichen Raum. Anstatt die verlorengegangene Nähe wiederherzustellen, zerstören solche Unternehmungen sie ganz.

Die Paare führen über diese Woche hinweg ein Videotagebuch. Welche Funktion hat die Begleitung durch die Kamera?

Vielleicht erleben wir heute Nähe nur dann, wenn wir sie für den Blick der anderen ausstellen. Wir müssen erst eine Kamera aufstellen, um überhaupt die Nähe, die sexuelle Lust empfinden zu können. Sie ist dann eine pornografische Lust. Eine ganz andere Nähe bringt dagegen ein Vers von Paul Celan zur Sprache: "Du bist so nah, als weiltest du nicht hier." Diese verhaltene Nähe verschwindet heute im Zuge totaler Abstands- und Distanzlosigkeit.

RTL preist das Format als „neue Form der Paartherapie“.

Der voyeuristische, pornografische Blick wird keine Heilung herbeiführen. Er verschärft die Krankheit. Vor jeder Paartherapie sollten wir unsere Gesellschaft therapieren. Heute brauchen wir eine Psychoanalyse der Gesellschaft.

Byung-Chul Han

Jahrgang 1959, ist Autor, Essayist und seit dem Wintersemester 2012/13 Professor für Philosophie und Kulturwissenschaften an der Universität der Künste in Berlin.

Er erklärt Gesellschaft etwa so: In „Agonie des Eros“ thematisiert er das Verschwinden wirklicher Nähe durch das Primat des Ego. Anfang April erscheint sein Essay „Digitale Rationalität und das Ende des kommunikativen Handelns“, im Herbst folgt das Buch „Im Schwarm. Ansichten des Digitalen“. Alle Bücher erscheinen im Verlag Matthes und Seitz.

Byung-Chul Han ist am 20. April zu Gast auf dem taz.lab und spricht zum Thema „Liebe in liebesfernen Zeiten“.

Ihre Bücher tragen die Titel „Müdigkeitsgesellschaft“ und „Transparenzgesellschaft“. Die genannte TV-Sendung begegnet dieser Müdigkeit mit noch rastloserer Aktivität und dem Übermaß an Transparenz damit, nun auch noch das Schlafzimmer auszuleuchten. Ist das nicht absurd?

Bald wird man sogar eine Kamera im Sarg installieren und der Leiche bei der Verwesung zuschauen. Kürzlich war ich auf einem Friedhof. Da waren individualisierte Grabsteine zu sehen, eine Art Facebook-Gräber. Wäre es nicht denkbar, dass wir bald im Grabstein einen Screen einbauen und dort die ganze Timeline laufen lassen? Jedes Grab wird laut über sein Leben erzählen. Dann drücken die Friedhofsbesucher auf den Gefällt-mir-Button. Eine neue Form der Erlösung, eine neue Unsterblichkeit der Seele. Facebook ist ja bereits eine Kirche.

Sie sagen: Unsere Selbstbezogenheit erschöpft uns. Aber ist es nicht so, dass wir immer schauen, was die anderen tun?

Man nimmt die anderen nur auf sich selbst hin wahr. Der Eros ist eine andere Wahrnehmung. Er reißt mich aus mir heraus. Daher kann er mich von der Depression befreien. In der Depression bin ich hoffnungslos in mich selbst verwickelt, ohne jeden Ausgang, der mich zum Anderen befreien würde. Wir ersticken unter der Bürde des Selbst-sein-können-Müssens.

Das erotische Begehren wird zerstört, der Andere als mein Gegenüber verschwindet. Das klingt ziemlich apokalyptisch.

Dieser Apokalypse würde ich eine andere Apokalypse entgegenstellen, die in „Melancholia“ von Lars von Trier filmisch dargestellt ist. Justine lebt in dem Moment auf, als der Andere ihr in Form des tödlichen Planeten erscheint. In seinem blauen Licht am Flussfelsen räkelt sie sich voller Wollust. In diesem Moment erklingt das Präludium von „Tristan und Isolde“. Heute ist der Andere nur in Form einer Apokalypse erfahrbar.

Wie finden wir zu echter Nähe?

Durch mehr Ferne. Not täte heute das Pathos der Distanz. Allein mit ihm könnte man den Terror der Intimität bekämpfen.

Sophie Fedrau und Byung-Chul Han hielten sich voneinander fern. Sie bevorzugten, das Gespräch per Mail zu führen.

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2 Kommentare

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  • AU
    Andreas Urstadt und Julien Lewis

    Es gibt hier eine Verkennung von Byung-Chul Han.

     

    Es geht vielmehr um to share (teilen, mit-teilen, Mit-Teil,...) als um to exhibite (aus-stellen, aus-setzen); es geht vielmehr um soziale Mit-Teile als um EgoPositionen.

     

    Die Praxen haben sich veraendert. Man zeigt nicht, man teilt mit. Das Zeigen war vielmehr noch autoritaer und auch im Sinn von Fuehrung und Konfrontation - all das gibt es bei to share nicht. Es geht viel eher um ungezwungene Interaktion, wobei die andere Seite gar nicht offen reagieren muss, die Interaktion kann stillschweigend sein. Es gibt keinen Zwang mitzuteilen, dass mit einem etwas geteilt wurde, dass man etwas gesehen etc hat, was einem mitgeteilt wurde. Dasselbe gilt auch bei blogs etc usw. Es ist kein Dialog. Keine Konfrontation.

     

    Jeder darf mitteilen, es gibt keinen Kurator. Keinen Vormund. Es ist eine Form von open access, das gilt auch fuer wissenschaftliche Beitraege, es gibt keinen Unterschied. Von wissenschaftlichen open access Plattformen etc wird kaum geredet, es ist was anderes als Buecher verkaufen wollen, es geht um Teilen. Und dieses Teilen ist unmittelbar, distanzlos. Unmittelbares Teilen ist soziales Teilen, Zugang. Oeffnung.

     

    Es ist kein Diskurs des Big Brother, der doch sehr nah am Aequivalent des Big Brother steckt, naemlich der Kurator. Der Big Brother ist das Aequivalent zum Zeigen, zum Aus-Stellen, er ist nicht das Aequivalent zum Teilen. Wo Byung-Chul Han keinen Eros realisiert, ist sehr viel. Der Abstand ist immanent, die Perspektive des Big Brother kennt diese Immanenz nicht, die auch Respekt ist. Mit-Teilen, nicht verschmelzen, kein Verinnerlichen eines zwingenden Kurators, der zum Exhibitionismus fuehrt.

  • A
    Aleia

    "Der voyeuristische, pornografische Blick wird keine Heilung herbeiführen." Dies ist für mich der Kernsatz des Artikels. Er passt nicht nur auf diese weitere Irrung im TV, sondern auf unsere komplette Gesellschaft. Mir tun vor allem die Kinder leid, die in dieser Pornokultur aufwachsen müssen. Eltern haben heutzutage kaum eine Chance, Kindern ein Aufwachsen jenseits des voyeuristischen, pornografischen Blicks zu ermöglichen, den die meisten inzwischen nicht mal mehr bemerken, sondern abgestumpft für Normalität halten...