Abtrünnige Muslima: Als sie das Kopftuch ablegte
Emel Zeynelabidin war einmal eine strenge Anhängerin des Islam. Nun sucht sie im Glauben nach Freiheit und Liebe. Kompromisse macht sie keine mehr.
Der Elisabethkirche in Marburg ist sie verfallen: groß, gotisch, die Fenster dunkelblau. Emel Zeynelabidin kommt oft hierher, in eine Kirche, die erst den Katholiken gehörte, dann den Protestanten. Und nun, auf eine sehr private Weise, einer Muslima. Sie steht zwischen den Bankreihen und zieht ihren Rock nach unten. Er liegt eng um ihre Hüften und endet weit überm Knie. „Ich will noch kurz die Kirchenluft atmen“, flüstert sie.
Sie lebt seit ein paar Monaten in Kernbach, einem Dorf unweit von Marburg, hinter grünen Hügeln, am Ende einer holprigen Straße. Sie hat kein Auto, andere nehmen sie mit, ihre Nachbarin, der Projektleiter ihres Buches, Dorfbewohner, die sie anspricht. Am Anfang hatte sie kein Telefon, kein Internet und ihr Handy keinen Empfang. Zum Telefonieren musste sie aus dem Dorf laufen, auf eine Brücke. Es klingt, als fände sie das lustig, dieses Improvisieren.
Es gibt keine Moschee im Dorf, keine islamischen Vereine, also hat sie sich mit dem Pfarrer angefreundet, sie besucht Taufen, sie spielt in Kirchenspielen die „fremde Frau“ mit dem grauen Schal. Sie ist mit ihrem zwölfjährigen Sohn aufs Land gezogen, dem jüngsten ihrer sechs Kinder. Als sie kürzlich zurück nach Berlin fuhr, auf Lesereise, wollte er nicht mit.
Emel Zeynelabidin ist bekannt in Berlin. Sie war es schon, als sie noch Kopftuch trug, als Tochter von Yusuf Zeynel Abidin, der die deutsche Sektion der türkischen Gemeinschaft Milli Görüs gründete, die heute vom Verfassungsschutz überwacht wird.
Sie wurde 1960 in Istanbul geboren, kam ein Jahr später nach Deutschland, heiratete 1980. Sie wurde die Vorsitzende des islamischen Frauenvereins, sie hat den ersten islamischen Kindergarten in Berlin gegründet – eine Institution in konservativen islamischen Kreisen. Bis sie ausscherte ein Vierteljahrhundert später, ihr Kopftuch ablegte, es dem Haus der Geschichte in Bonn übergab.
Sie schreibt Essays und gewann einen Preis
Seitdem ist sie erst recht berühmt, berühmt-berüchtigt. Sie schreibt jetzt Essays für Die Welt und die FAZ, eine Muslima, die sich über die Strenge ihrer eigenen Religion aufregt. Die Christen sind nun ihre Freunde, sie loben ihren Mut. 2008 gewann sie als erste Muslima den Lutherpreis „Das unerschrockene Wort“. Ein Film wurde über sie gedreht, „Hüllen“, und nun erscheint ihr erstes Buch.
Berlin war grauenhaft in letzter Zeit, sagt sie. Vor vier Monaten ist sie geflohen. Alle Menschen, die nun bereitwillig ihr Leben bevölkern, kennt sie noch nicht lange. Die Einsamkeit bemerkst du erst, wenn du stärker in dich selbst eindringst, sagt sie. Aber auch der Weg in dich selbst ist einsam. Zweisamkeit ist eine Illusion.
Sie stiefelt durch ihr neues Dorf, zeigt auf das Quellwasser, das aus einem Stein sprudelt, spricht über die „Konsumfreiheit“, die sie hier hat, läuft zum Aussichtspunkt, grüne Wiesen, tiefer Nebel, Ruhe. „Der Schoß Gottes“, sagt sie.
Sie lebt seit sieben Jahren ohne Kopftuch. Vorher sah sie unzugänglich aus für einen großen Teil der Deutschen: langer Mantel, bunt gemustertes Tuch, um Hals und Schulter, nur das Gesicht frei. Sie sieht alt aus auf Fotos, viel älter als heute, die Brauen ungezupft, die Augen ungeschminkt. Hätte eine deutsche Frau es je gewagt, mit ihr über Sex zu sprechen?
„Oh Gott, furchtbar“, sagt sie heute. „Man wird ja mit einem fremden Mann verheiratet. Unglaubliche Peinlichkeit.“ Zwei Menschen, die sich bis zur Hochzeitsnacht nie berührt haben. Es gibt in den Hadithen so eine Stelle: Wenn die Frau dem Mann sexuell nicht gefügig ist, dann verfluchen sie die Engel. „Das ist unglaublich, oder? Vorher lobt der Prophet das Liebesspiel ja noch.“
Intensive Recherche im Koran
Als 2004 der Kopftuchstreit in Deutschland auf seinem Höhepunkt war, griff Emel Zeynelabidin als Vorsitzende des islamischen Frauenvereins in die Debatte ein, um zu vermitteln. Die Folge war eine intensive Recherche im Koran.
Sie stieß auf die Offenbarungsgründe, die den historischen Kontext der Suren erklärten: Die gläubigen Frauen sollten sich verhüllen, damit die Männer sie von den Sklavinnen unterscheiden können. Emel Zeynelabidin argumentiert, dass es heute keine Sklavinnen mehr gebe, also wozu die Verhüllung? Außerdem glaubt sie, dass erst mit der Einführung der Scharia Empfehlungen aus dem Koran auch zu religiösen Pflichten wurden.
Der Islam sei eine problemlösungsorientierte Religion, sagt sie. Und die Probleme, die durch die Verhüllung der Frau entstehen, wiegen schwerer als die Gründe, die für ein Kopftuch sprechen mögen.
Zeitgleich mit dieser Textexegese geschah noch etwas: Emel Zeynelabidin verliebte sich. Sie sagt nicht viel über den Mann. Er sah wohl aus wie ein Elch und sie sagt, dass sie sich ihre Faszination so erklärt hat. Aber dann: eine solche Sehnsucht. „Hingabe.“
Er hat sich für seine Familie entschieden und er will nicht, dass die Öffentlichkeit etwas über ihn erfährt. Körperlich sei nie etwas passiert, sagt Emel Zeynelabidin. Aber wenn man diese Hingabe erlebt hat, verändere sich alles. „Man wird demütiger.“
Jahre später schreibt sie: „Für mich bedeutet Islam Hingabe, nichts anderes. Sich hingeben kann nur die Seele. Sie nimmt den Körper mit. Wer die Liebe nicht kennt, kennt keinen Islam.“ Und: „Liebe ist der einzige Beweis für die Existenz einer Seele.“ Das Kopftuch, meint sie, verhindere Hingabe. Das wollte sie nicht mehr.
Am Anfang ihres „Auswegs“ experimentiert sie mit kreativen Hutmodellen. Dann legt sie ihr Kopftuch ganz ab. Gegen den Willen ihrer Familie. Sie besucht eine Volkstanzgruppe, lernt, andere Männer anzufassen. Sie macht Aikido. Sie geht in ein Schwimmbad, besucht ein gemischtes Fitnessstudio, lässt sich scheiden, testet Online-Dating. „Jemanden berühren und berührt zu werden ist eine Fähigkeit.“
So wie der Islam ausgelegt wird, unterdrücke er Körperkontakt zwischen Mann und Frau und schränke die Menschen fundamental ein. „Glücklich darfst du nicht werden, denn das Glück wird aufgehoben fürs Jenseits.“
Die Frage ist nur, sagt Emel Zeynelabidin: Sind die Menschen ohne diese Einschränkungen glücklicher?
"Ich würde mich gern schminken lassen"
März 2013, es ist kalt in Marburg. Grau. Emel Zeynelabidin sagt, sie will Frühling im Gesicht. Also zu Douglas. „Ich habe eine Douglas-Card“, sagt sie zur blonden Verkäuferin. „Wir würden uns gerne schminken lassen.“ Die Lippen pink, die Lider grün, noch ein wenig Rouge? „Mal sehen, was die Männer sagen“, sagt sie voller Vorfreude.
Die Männer sagen nichts, niemand pfeift, niemand dreht den Kopf. Sie entdeckt mit fünfzig, dass es teuer ist, Frau zu sein. – Und manchmal frustrierend.
„Ich will wissen“, sagt sie auf dem Weg in die Altstadt, „wie man einen Mann erobert.“ Nicht fürs Bett, sondern wie man sein Herz erobert. Sie fragt ihren Projektleiter, einen Mittdreißiger, einst Student in Marburg: „Kann ein Mann Hingabe erleben?“
Ihre Familie hielt sie für verrückt, als sie ihr Kopftuch ablegte, und vom Teufel besessen. Emel Zeynelabidin musste zum Exorzisten. Der wollte den Teufel vertreiben, sagte aber schlussendlich zur Familie: Sie ist bei vollem Verstand.
„Ich bin der Elchtest für Milli Görüs“, sagt sie. „Sie können mich nicht ablehnen, aber sie können mir auch nicht zustimmen.“ Es gab schon Lesungen mit ihr, da wurden die Veranstalter nervös. Einmal etwa, als mitten in ihrem Vortrag drei Menschen zur Tür reinkamen: eine verschleierte Frau und zwei Männer mit langen Bärten. In ihrer Mitte trugen sie eine pralle Tasche. Sie weiß nicht, wer ihre Feinde sind, sagt sie, aber die permanente Öffentlichkeit schütze sie.
Es ist dunkel geworden im Dorf. Emel Zeynelabidin hat Köfte gemacht, Hackfleischbällchen, man riecht sie überall in der kleinen Erdgeschosswohnung in einem alten Bauernhof. Ihr Sohn steigt manchmal aus dem Fenster auf die Straße, wenn er schnell zum Schulbus muss.
Es beginnt zu schneien. Dicke Flocken auf die schmalen Straßen des Dorfes. Der Projektleiter ihres Verlages, „Matthias“, hatte sie noch nach Hause gefahren. Jetzt nimmt er die Gitarre. Im Regal steht eine Biografie von Cat Stevens, der nun Yusuf Islam heißt. Matthias spielt: „In the blackness of the night“. Emel Zeynelabidin singt. „In the blackness of the night I seem to wander endlessly.“
Draußen leuchtet der Schnee und darüber die Sterne. So klar, wie es nur auf dem Dorf geht. „I’m alone and there is no one by my side.“
Wenn du dich positioniert hast in deinem Leben, sagt sie, ziehst du den entsprechenden Mann automatisch an. „Alles andere wäre ja so risikobehaftet und anstrengend“, sagt sie. „Das wäre ja nicht vollkommen.“
In ihrem Flur steht ein Buch mit leeren Seiten: Auf dem Cover ist ein Elch. Er küsst einen Frosch.
Sie würde eigentlich gerne noch ein Kind bekommen. Und einen Tanzkurs machen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Wirtschaftspolitik der FDP
Falsch und verlogen
Auflösung der Ampel-Regierung
Holpriger Versuch endgültig gescheitert
Auflösung der Ampel-Regierung
Drängel-Merz
+++ Ampelkoalition zerbricht +++
Lindner findet sich spitze
Trumps Sieg bei US-Präsidentschaftswahl
Harris, Biden, die Elite? Wer hat Schuld?
Grüne nach Ampel-Aus
Wahlkampf in der Einarbeitungsphase