Die Wahrheit: Dribbelstarke Hölzer
Das deutsche Champions-League-Finale wirft lange Baumschatten voraus und sorgt auch im Wald für Begeisterung.
Deutschland im Fußballfieber. Zauberfußball im ehemaligen Rumpelfüßlerland. Die deutschen Panzer rollen zum Traumfinale ins Wembley-Stadion. Die ganze Welt applaudiert Borussia Dortmund und Bayern München.
Und der deutsche Wald? Steht stumm und schweigt zu den historischen Vorgängen? Weit gefehlt! Oberförster Wendelin Brechtinger führt den Wahrheit-Reporter in sein Revier nahe Deggendorf. Er möchte etwas Erstaunliches zeigen. Auf den ersten Blick ein locker bepflanzter Mischwald – doch der stämmige Niederbayer klärt auf: auf dieser Lichtung stehen sich elf Laubbäume und elf Nadelgehölze zum „Baumball“ gegenüber.
Zwei Pappeln bilden auf jeder Seite des Spielfelds ein Tor, vier Jungbirken haben sich als Eckfahnen postiert. „Dazu noch ein Ball aus gepressten Blättern und Tannenzapfen, mehr braucht es nicht für ein zünftiges Spiel!“
Wendelin Brechtinger, nebenberuflich Coach der Laubbäume, erläutert sein fußballerisches Credo: „Das ganze Trara um Tiki-Taka, Gegenpressing und Doppelsechs kann ich nicht mehr hören. Hier geht alles ein bisschen geruhsamer zu – dafür ist unser Spiel gelebte Nachhaltigkeit par excellence.“
Und in der Tat: Leuten, denen beim heutigen Hochgeschwindigkeitsfußball leicht schwindlig wird und die den Kurzpassstafetten kaum mehr folgen können, sind bei der naturnahen Spielvariante „Baumball“ goldrichtig. Der gemächliche Spielfluss ist eine Wohltat für den gestressten Großstadtmenschen: Da dauert es schon mal länger, bis die Viererkette das Spielgerät in die gegnerische Hälfte befördert hat. Im Durchschnitt dreieinhalb Jahre, wie Brechtinger ausführt. „Ein Spiel dauert bei uns 24 Jahre. Dafür lassen wir aber die Halbzeitpause weg und verzichten auf den Seitenwechsel.“
Ein Baumballspiel ist also eine echte Lebensbegleitung. Man kann immer mal wieder zwanglos vorbeischauen und gucken, wo sich das Spielgerät gerade befindet oder ob ein Spieler altersmorsch auf dem Spielfeld zusammengebrochen ist. Brechtinger verweist voller Stolz auf die extrem abgeklärte Spielweise seiner „Stammspieler“, die hinten nur ganz selten was zulassen, vor dem gegnerischen Tor allerdings auch oft zu umständlich agieren.
„Da fehlt uns manchmal ein Knipser, ein Vollstrecker. Aber die deutschen Tugenden haben meine Jungs voll drauf – kompakt stehen, Räume eng machen, und wenn hinten mal wirklich ein gegnerischer Spieler durchs Unterholz der Verteidigung bricht, schreckt mein Vorstopper auch nicht vor einer Blutbuchengrätsche zurück.“
Als vor zweieinhalb Jahren das letzte Tor fiel – die Weißtanne „Jan Krikowski“ hatte einen weiten Abschlag per gefühlvollem Heber über den wie angewurzelt stehen gebliebenen Torwart der Laubspieler in den gegnerischen Kasten geschlenzt –, war das für Coach Brechtinger Anlass genug, auf dem Transfermarkt tätig zu werden. „Meine Burschen hatten dringend frisches Blut nötig. Die Einstellung stimmte zwar, aber die Mannschaft hat sich viel zu selten vorne belohnt. Also haben wir ein dribbelstarkes brasilianisches Tropenholz als Sturmspitze verpflichtet und gegen die langsam gewordene Eiche ausgewechselt.“
Gebracht hat es wenig. Zu massiv sind die Defizite der behäbigen Laubspieler: Sie stehen meist zu weit weg vom Gegner, Pressing scheint für viele eine Buche mit sieben Siegeln zu sein, und das schnelle Umschalten haben Ahorn, Eiche & Co. auch nicht gerade erfunden. Die wesentlich agileren Nadelgehölze arbeiten viel besser gegen den Ball und spielen ihre Konter immer mal wieder schön zu Ende.
Einen tragischen Abschluss fand die Langzeitpartie, als es kürzlich im Strafraum des Laubteams lichterloh brannte. Das Spiel musste abgebrochen werden, doch bis die Feuerwehr endlich am abgelegenen Spiel- ort eintraf, waren restlos alle Spielerbäume abgebrannt. Nur verkohlte Baumstümpfe erinnern heute noch an das legendäre Endspiel um den deutschen Waldpokal. Doch gottlob wächst in der nahe gelegenen Schonung schon hoffnungsvoller Nachwuchs heran.
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