Roman mit Gespenstern: Ein beharrliches Flirren vor Augen
Die Toten reden mit Ruth in Monika Marons Roman „Zwischenspiel“. Leicht und surreal geht die Autorin an die Vergangenheit der DDR heran.
Es gibt zwei Sätze in diesem Buch, die wie Überschriften über dem Ganzen stehen könnten. „Schuld bleibt immer, so oder so“, heißt der eine. Der andere stammt aus Strindbergs „Traumspiel“: „Es ist schade um die Menschen.“ Schuld und Trauer also: Schuld als existenzielle Kategorie, und Trauer um das, was aus den Menschen geworden ist, die doch immer so viel mehr aus sich hätten machen können.
Beide Sätze werden von einer Toten gesprochen, der über 90 Jahre alten Olga, die an dem Tag, von dem hier erzählt wird, beerdigt werden soll. Die Ich-Erzählerin Ruth, vor Jahrzehnten, als sie mit Olgas Sohn Bernhard liiert war, nahezu deren Schwiegertochter, ist auf dem Weg zur Beerdigung. Doch ein beharrliches Flirren vor ihren Augen, das die Welt in ein impressionistisches Gemälde verwandelt, und das sture Schweigen der Stimme aus ihrem Navigationsgerät lassen sie die Orientierung verlieren.
Sie landet in einem Park im Nordosten Berlins in einer seltsamen Zwischenwelt, wo die Toten erscheinen und mit ihr sprechen, wo sich ihr ein Hund mit blauen, sehr menschlichen Augen anschließt und wo sogar Margot und Erich Honecker als täppische, auf ewig verbitterte Untote durchs Bild taumeln: Gespenster, die von Schuld nichts wissen wollen. Alles ist möglich in dieser Zwischenwelt.
Monika Marons Roman „Zwischenspiel“ ist ein Buch über die Liebe, über die Versäumnisse des Lebens, den Schmerz, das Bedauern und den Tod und – auch das – ein Buch über die versunkene DDR. Es sind die bekannten Themen Marons, die sie hier aber auf überraschend neue Weise, surrealistisch, leicht und luftig als Sommertagstraum behandelt.
Ihre Kunst besteht darin, dass man ihr das Unmögliche glaubt. Die Wirklichkeit muss sich nur ein wenig verschieben, damit sich alles verändert, so wie die kleine Wolke gleich zu Beginn, die plötzlich rückwärts zieht und sich in nichts auflöst. Vielleicht hat die Erzählerin ja nur zu lange ins Licht gestarrt und deshalb den klaren Blick verloren.
Unbekannte Tiefen
Aber was heißt das schon: Gerade die Unschärfen ermöglichen tiefere Einsichten und produzieren ihre eigenen Bilder und Figuren. Denn alles, was ist, bringen wir ja selbst hervor. Die Toten, die da neben Ruth auftauchen, machen ihr klar, dass sie alle nur in ihren Gedanken vorhanden sind – auch wenn Ruth nicht weiß, aus welchen unbekannten Tiefen in ihr all diese Gestalten aufsteigen.
Neben der freundlichen, zurückhaltenden Olga ist das vor allem der zu langen Monologen neigende Säufer Bruno, der damals in der DDR ein genialischer Dichter und Denker ohne Werk gewesen ist, einer der es vorzog, seine Ideen zu verschleudern, um statt des Verstandes bloß die Leber zu opfern. Andere profitierten von ihm, so Ruths Ehemann Hendrik, der ganze Hefte mit Brunos Ideen füllte und so zu einem bekannten Ost-Schriftsteller wurde, der mit Ruth und deren Tochter dann auch programmgemäß dissidentisch in den Westen übersiedelte.
Schuld und Trauer: Hätte das Leben anders verlaufen können? Was wäre gewesen, wenn Ruth sich nicht davongemacht und Bernhard, den Vater ihrer Tochter, kurz vor der schon angesetzten Hochzeit fluchtartig verlassen hätte, weil sie sich davor fürchtete, dessen behinderten Sohn pflegen zu müssen? Diese Flucht ist ihre Schuld. Und doch ist sie der jungen Frau, die sie damals war, dankbar für diese Entscheidung, weil sie ihr ein anderes Leben, ihr Leben ermöglichte.
Das Leben ist nicht berechenbar
Und Bernhard, der, wie sich nach der Wende herausstellte, zum Stasispitzel wurde und dabei sogar die eigene Tochter für Auskünfte über Ruth und ihren Mann missbrauchte – was wäre aus ihm geworden?
Das Leben ist nicht berechenbar. Aber es braucht vielleicht Tage wie diesen, die als „Zwischenspiel“ herausfallen aus dem Kontinuum des Alltäglichen, um von hier aus, mit Distanz und Verrücktheit, auf die eigene Geschichte zu blicken. Der ganze Stasi-Ballast ist immer noch fürchterlich, aber doch schon weit abgesunken in der Vergangenheit. Schwerer wiegt der Verrat als Vertrauensbruch und das Scheitern der Liebe. Das Unerträgliche an der DDR war ja gerade, dass alles Persönliche politisch überformt und deformiert wurde; sich davon freizumachen bedeutet also, auch die Schuld zu entpolitisieren.
Was also ist eine Stasi-Geschichte gegen die Abgründe der Liebe? Die Stärke von Marons Blick zurück besteht darin, dass das Strindberg’sche „Es ist schade um die Menschen“ auch sie selbst oder vielmehr ihre Erzählerin mit einschließt. Schuld bleibt immer, so oder so. Es fragt sich nur, wie man damit lebt und was man daraus macht.
Am Ende all dieser traumhaften Reflexionen taucht dann das personifizierte Böse auf, ein Toter mit dem bösen Blick, der von sich sagt, er sei nichts als böse – und der Ruth zwingt, darüber nachzudenken, was sie daran so fasziniert. Wo ist das Böse in ihr selbst, wenn sie es nicht finden kann?
Totentanz im Park
Mit einer Szene, die aus Goyas Bild „Das Begräbnis der Sardine“ stammt, endet das Geschehen: ein karnevalesker Totentanz im Park, eine stampfende, Gott anrufende Menschenmenge, eine bedrohliche, apokalyptische Vision. Aber auch das gehört dann ja wohl zum eigenen Ich und seiner Geschichte, so wie sie in diesem impressionistischen Entwurf erscheint. Denn darum geht es: all die verschiedenen Zustände und Seinsweisen, die das Leben ausmachen, zusammenzusetzen zu einer Person.
Monika Maron: „Zwischenspiel“. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2013, 192 Seiten, 18,99 Euro
„Was ist so ein Ich eigentlich“, fragt sich die Erzählerin, „wenn dem alten Ich das junge so fremd ist, als gehörte es gar nicht zu ihm. Wo bleiben die ganzen Ichs überhaupt, die man in seinem Leben war und denen man das letzte immerhin verdankt?“ In „Zwischenspiel“ kommen sie zusammen, und haben alle ihr Recht und ihre Schuldigkeit getan. Eine starke, heitere Gelassenheit gegenüber dem Leben und dem Tod spricht aus diesem wunderschönen, poetischen Roman.
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