Ungeklärter Tod in Haasenburg-Heim: Der Fall Lena
Der Tod eines 16-jährigen Mädchens in einem Heim der Haasenburg GmbH wirft Fragen auf. Wurde die Leiche vor dem Eintreffen der Polizei verändert?
BERLIN taz | Auf der Vorderseite des karierten Schulheftchens klebt das Foto eines flauschigen Robbenbabys, darunter steht in Kinderhandschrift: „Name: Lena*. Hier stehen meine Gedanken, meine Gefühle, meine Rap-Texte, meine Gedichte, meine Sorgen und Probleme!“ Oben links eine Warnung: „Finger weg!“
Am 30. September 2006 schreibt sie in blauer Tinte: „Es fällt mir so unendlich schwer, ich wünsche, dass unsere Zeit unendlich wär. Ich sitze hier und rieche deinen Duft, mir kommen die Tränen und ich kriege keine Luft. … Gucke, was für ein grauer Tag, es macht alles Sinn, wenn man die Trauer mag!“ Der Junge, für den Lena schwärmt, ist wie sie selbst in dem Heim in Brandenburg untergebracht.
Sechs Seiten, die jugendliche Sehnsüchte ausdrücken; auch ein Gedicht mit dem Titel „Teddybär“ findet sich, das Lena von ihrer Heimfreundin Julia H. geschenkt bekam. Der Rest der Seiten bleibt leer. Lena war 16 Jahre alt, als sie starb.
Lenas Mutter ist von der Tochter kaum mehr als dieses Heftchen geblieben. Eine Ärztin setzte als Todeszeitpunkt den 31. Mai 2008, 12.25 Uhr fest. „Ort des Auffindens“, laut „Todesermittlungssache“ der Polizeiwache Lübben: „Am Babenberg 9, 15913 Jessern“. Die Adresse des Heims, wo Lena es nicht länger ausgehalten hatte. Der Betreiber, die Haasenburg GmbH, schickt der Mutter einen Karton mit den Habseligkeiten ihres Kindes. Tragischer Unfall.
Recherchen der taz erhärten den Verdacht, dass hinter den Umständen von Lenas Tod mehr steckt. Nach allem, was man weiß, gab es schwerwiegende Gründe dafür, warum Lena aus dem Fenster steigen und fliehen wollte. Sie stürzte, fiel auf ein Vordach und dann zehn Meter tief auf die Asphaltplatte einer Tiefgarage. Sie schlug mit der linken Körperseite auf. „Die dabei entstandenen schweren Verletzungen an Kopf und Rumpf stellen die unmittelbare Todesursache dar“, heißt es im Gutachten des Brandenburgischen Lehrinstituts für Rechtsmedizin vom 11. Juni 2008, das der taz vorliegt.
Posieren für den Erzieher?
Lenas Mutter ist seit diesem Tag ein anderer Mensch, ihre Ehe geht in die Brüche, sie zieht zurück in den Ort ihrer Kindheit, ihr Leben und die viele Arbeit rauschen an ihr vorbei. Es gibt eine Serie von Bildern, die ihr keine Ruhe lassen. Einen Abzug, der im Überblick Miniaturaufnahmen eines ganzen Films zeigt. Darauf finden sich acht Aufnahmen, auf denen ihre Tochter in lasziven Posen zu sehen ist: Lena trägt ein schwarzes Top, bauchfrei, liegt auf dem Bett und streicht mit dem Finger über ihre karminrot geschminkten Lippen. Eines zeigt eine Nahaufnahme ihres fast nackten Rückens und der Taille, der Kopf ist nicht zu sehen.
Es gibt Hinweise, dass der Fall Lena noch eine andere Dimension hatte als bei anderen Jugendlichen im Haasenburg-Heim: Die Mutter sagt, ihre Tochter hätte ihr anvertraut, dass ein Erzieher des Heims Lena dazu brachte, sich so fotografieren zu lassen.
Auch der Spiegel hatte vermeldet, dass Lena kurz vor ihrem Tod Strafanzeige gegen einen Erzieher gestellt hatte: wegen sexuellen Missbrauchs.
Trug sie Schutzkleidung?
Das letzte Mal sah Lenas Mutter ihre Tochter Weihnachten 2007. Sie besuchte Lena in der Haasenburg GmbH. Gleich nachdem Lena ihre Geschenke ausgepackt hatte, musste auf Anweisung der Erzieher alles wieder in einer Tüte verschwinden, berichtet die Mutter. Wenn sie von Lena in der Vergangenheitsform redet, kommen nach einer Weile die Tränen. Zu der Scham gesellte sich mit den Jahren die Wut.
Tatsächlich gibt es im Fall Lena Ungereimtheiten. Aus der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakte, die der taz vorliegt, ergeben sich Widersprüche zu Dokumenten der Haasenburg GmbH. So heißt es in einer internen Stellungnahme der Mitarbeiterin T. zum Todesfall von Lena am 31. Mai 2008: „L. lag auf ihrer linken Seite. Ihre Arm- und Knieschützer hatte sie noch um, der Helm lag an ihren Füßen.“ Das Mädchen musste im Heim solche Kleidung tragen, angeblich zum Schutz vor sich selbst.
Von dieser Kleidung steht nun nichts mehr in der Ermittlungsakte. Auch die Tatortfotos der Leiche zeigen das Mädchen ohne Arm- und Knieschützer oder Helm. Die Staatsanwaltschaft, die den Fall schon zu den Akten gelegt hatte, bestätigt der taz erneute Ermittlungen aufgrund dieser Widersprüche. Die Sachlage sei eine andere, wenn das Mädchen am Todestag Schutzkleidung getragen haben sollte, sagt Oberstaatsanwältin Petra Hertwig.
Vor allem stellt sich die Frage, warum die Polizei am Tatort diese Kleidung nicht vorfand. Offenbar gibt es jemanden in der Haasenburg GmbH, der behauptet, Lena hätte an ihrem Todestag keine solche Schutzkleidung getragen, heißt es von der Staatsanwaltschaft. Dann wäre die Aussage der Mitarbeiterin T. falsch. Doch dann erschließt sich nicht, weshalb sich in den internen Dokumenten der Firma die „Stellungnahme zum Todesfall von Lena am 31. 05. 2008“ befindet, in der Mitarbeiterin T. als Zeugin auf einer dreiviertel Seite den Verlauf beschreibt: „Ich nahm ihr dann die Knie- und Ellenbogenschützer ab, damit diese nicht unnötig schnürten“, gibt sie zu Protokoll. Auch eine Freundin von Lena, die am Tag des Unfalls vor Ort war, stützt die Darstellung von Mitarbeiterin T. Sie sagte der taz: Lena trug Helm, Arm- und Knieschützer.
Schließungsbescheid ist unterwegs
Die taz hat in mehreren Berichten die Vorfälle in den Heimen der Haasenburg GmbH dokumentiert. Die Enthüllungen haben schließlich dazu geführt, dass die zuständige Ministerin in Brandenburg, Martina Münch (SPD), veranlasst hat, dass die Heime geschlossen werden sollen. In dieser Woche wird der Schließungsbescheid zugestellt. Eine von Münch eingesetzte Untersuchungskommission hatte zuvor die „Antiaggressionsmaßnahmen“ und das rigide Konzept der Heimfirma kritisiert.
Über Lena hatte die taz bereits im Juni berichtet. In einem Protokoll der „Antiaggressionsmaßnahmen“, die das Mädchen über sich ergehen lassen musste, heißt es: „Schutzhelm wird Lena aufgesetzt, soll in der Mitte des Raumes stehen.“ Das Mädchen wirft den Helm gegen die Tür, er zerbricht. 10 Minuten später: „Es wird ein neuer Helm geholt und ihr aufgesetzt.“ Am 23. Oktober 2007 steht in einem Protokoll: „Körperliche Begrenzung auf dem Fixierbett.“ Lena „schreit, tritt und schlägt“. Im Protokoll: „Je länger L. die Kooperation verweigert und sich nicht beruhigt, desto länger dauert die Maßnahme.“ Um 23 Uhr: „L. liegt ruhig.“ Doch das reicht nicht: „L. beantwortet Fragen nicht ausführlich genug“, heißt es um 23.30 Uhr. Erst um 0.10 Uhr: „L. wird aus der Fixierung gelöst.“
Zu diesem Zeitpunkt war Lena 15 Jahre alt. In einem anderen Protokoll steht, wie Lena zu Kniebeugen gezwungen wurde. Darin heißt es auch, dass Erzieher sie später zu Boden drückten.
Die Haasenburg GmbH behauptet bei allen „Antiaggressionsmaßnahmen“, bei denen es auch zu Frakturen kam, alles diene nur zum Selbstschutz und zur Gefahrenabwehr.
Bildserie im Nachlass fehlt
Nun aber verdichten sich die Anzeichen, dass die „Maßnahmen“ in Lenas Fall noch deutlich über das bisher bekannte Vorgehen hinausgingen: Nach Recherchen des Spiegels habe ein Erzieher Lena kurz vor ihrem Tod aufgefordert, mit einem Handy ein Foto ihres entblößten Oberkörpers zu machen und ihm das Handy danach zu übergeben. Die Staatsanwaltschaft Cottbus leitete ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen ein. Es wurde nur wenige Tage später eingestellt, so berichtet der Spiegel. Die Mutter bestätigt das.
Die Abzüge, die Lenas Mutter der taz zeigt, untermauern nun die These, dass das Mädchen in dem Heim sexuell bedrängt worden sein könnte. Bezeichnend ist, dass ausgerechnet diese Bildserie bei den entwickelten Fotos aus dem Nachlass fehlt.
Viele Fragen bleiben offen: Warum musste das Mädchen einerseits solche Kleidung zum Schutz tragen und durfte andererseits an ihrem Todestag ein offenes Fenster in zehn Meter Höhe putzen, wie es der Ermittlungsakte zu entnehmen ist? Warum musste sie den Helm beim Schlafen tragen? Vor allem aber: Wie fühlt sich wohl ein Mädchen zwischen 14 und 16 Jahren mit einer solchen Montur? In einem Heim, in dem viele in der Pubertät sind, einem Alter, in dem die persönliche Autonomie wichtig ist.
Schon vor ihrer Zeit in dem Heim war das Mädchen oft von zu Hause weggelaufen. Eine schwierige Phase, die fast ein Jahr andauerte. Sie habe am Bahnhof rumgelungert, einmal sei sie nachmittags völlig betrunken gewesen, sagt ihre Mutter. Nachts habe sie Lena manchmal auf Polizeiwachen abholen müssen. Irgendwann, fürchtete die Mutter, würde sie das ihren Arbeitsplatz kosten. Es war wohl eine Mischung aus Angst um das Kind und Hilflosigkeit, die sie veranlasste, ihre Tochter der Haasenburg GmbH anzuvertrauen. Vielleicht würde das Lena helfen. Das Sorgerecht behielt sie.
Strafanzeige verheimlicht?
Die Kontakte zur Familie wurden eingeschränkt, berichtet Lenas Mutter. Sie hatte dem strengen Mitarbeiter ihres örtlichen Kreisjugendamts nichts entgegenzusetzen. Wenn die Behörde etwas anordnete, wenn Mitarbeiter der Haasenburg GmbH später die Telefonate mithörten und ihr Kind sich nicht traute, offen zu reden: Lenas Mutter ließ es geschehen. Sie war überfordert, mit ihrer Tochter wie mit den Vorgaben der Ämter.
Sie sagt, sie sei von den Behörden nie über Lenas Strafanzeige informiert worden. An Anita Stöhr hingegen, die zuständige Mitarbeiterin der brandenburgischen Heimaufsicht, ist im März 2008 eine „Meldung über ein besonderes Vorkommnis“ adressiert. Das Dokument liegt der taz vor: „Am 04. 03. 2008 äußerte die Jugendliche Lena, geb. 01. 09. 1991, in einem Gespräch mit einer Betreuerin, dass ein männlicher Betreuer sie geküsst und im Bereich des Oberkörpers angefasst haben soll.“ Und weiter: „Der Kollege bestreitet derartige Handlungen.“ Knapp drei Monate später stirbt das Mädchen beim Fluchtversuch. Für niemanden in den zuständigen Behörden in Brandenburg haben die Skandale in dem Heim bisher ernsthafte Folgen gehabt.
Die Mutter hat in ihrer neuen Wohnung die Fotos von Lena auf einen Sims gestellt. In Lenas Heftchen, auf dem ihre Hand ruht, gibt es ein letztes Gedicht: „Cassandra und Bushido“ heißt es. Lena schrieb: „Ich schenke dir mein Herz, denn meine Hoffnung stirbt zuletzt.“
* Name geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um Termin für Bundestagswahl
Vor März wird das nichts
Bewertung aus dem Bundesinnenministerium
Auch Hamas-Dreiecke nun verboten
SPD nach Ampel-Aus
It’s soziale Sicherheit, stupid
Wirbel um Berichterstattung in Amsterdam
Medien zeigen falsches Hetz-Video
Energiepläne der Union
Der die Windräder abbauen will
Einigung zwischen Union und SPD
Vorgezogene Neuwahlen am 23. Februar