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Gemeinschaftsmentalität in RusslandIch, das Volk

Wladimir Putin bedient die russische Sehnsucht nach dem Kollektiv. Es geht um das Wohl der Gemeinschaft, nicht um Individualismus.

Für Russen bedeutet die Gemeinschaft mehr als nur eine Einheit. Sie ist eine Lebens- und Denkweise. Bild: imago/McPHOTO

Die Individualität – ist sie in Russland nichts wert? Das Volk, ist es nur stiller Zeuge? In Russland denken einige, aber längst nicht alle, dass es genau so ist. Um es zu verstehen, muss man einen tiefen Blick in die russische Geschichte und die russische Seele werfen.

Der Homo sovieticus lebte in einer Kommune und schuftete für das Wohl der Gemeinschaft. Individualismus zählte nicht, das spiegelte sich unter anderem in der Sprache. „Jedinolitschnik“ – Eigenbrötler – war ein übles Schimpfwort und bedeutete so viel wie Schwerverbrecher und Vaterlandsverräter in einem.

Um den Wert einer Person zu beschreiben, muss man zuerst den Begriff „Gemeinschaft“, wie er in der russischen Mentalität verankert ist, definieren.

Für Russen bedeutet die Gemeinschaft mehr als nur eine Einheit. Die Gemeinschaft ist eine Lebens- und Denkweise. Knapp 1.500 Jahre bewirtschaftete der russische Bauer mit seiner Gemeinde die Felder. Isolierte Haushalte hatten kaum Überlebenschancen. Wohlstand aufzubauen war unmöglich, denn die Felder wurden jedes Jahr neu aufgeteilt. Sowieso galt es nicht als ehrenvoll, wohlhabend zu sein. Der orthodox-christliche Glaube setzte Reichtum mit Sünde gleich. Reiche wurden von Gewissensbissen geplagt und zum Mäzenatentum verdammt.

Die Sowjetmacht zerstörte das grundlegende Prinzip des kollektiven Schaffens nicht. Im Gegenteil, sie besiegelte es, indem sie den einfachen Menschen ein heiliges Ziel setzte: eine Gesellschaft aufzubauen, in der Gleichberechtigung und ehrliche Arbeit Vorrang haben. Am Ende glückte dies jedoch nicht, und die Menschen fanden sich nach dem Zerfall der Sowjetunion mit neuen Bedingungen konfrontiert. Plötzlich war Individualismus, war individuelle Freiheit die höchste Tugend.

Nicht gewohnt, eigene Entscheidungen zu treffen

Die einfachen Menschen verloren ihre ursprünglichen Ideale aus den Augen, die neuen amerikanischen Werte riefen aber nur Abscheu hervor. Demokratie wurde ausschließlich als Freizügigkeit verstanden – ohne Rücksicht auf die anderen. Das löste große Verunsicherung aus, denn der Sowjetmensch war es nicht gewohnt, eigene Entscheidungen zu treffen. Das hatte bislang immer die ferne, göttlich anmutende Macht für ihn getan.

taz am wochenende

Warum es toll ist, ein Objekt zu sein – und was Heterosexuelle sonst noch von Schwulen und Lesben lernen können, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 9./10. August 2014. Außerdem: Eine Ausbilderin bei den UN-Blauhelmen erzählt von der inneren Zerrissenheit der Militärs. Und: So klappt's auch mit dem Schmiergeld. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

„Wer bist du überhaupt?“ Diese Frage hört man heute in Russland überall: auf Behörden, beim Einkaufen, auf der Straße. Das Recht, erhört, qualitativ bedient und schließlich nicht verprügelt zu werden, muss man manchmal begründen, zum Beispiel dadurch, dass man klarmacht, man steht nicht allein, man hat jemanden hinter sich. Auch der Satz: „Wieso verlangst du immer mehr als die anderen?“, der so viel bedeutet wie: „Wieso mischst du dich immer ein?“, fällt oft. Ein Einzelner, dessen Meinung von der allgemein gültigen Norm und Überzeugung abweicht, ist in den Augen der meisten in der Gesellschaft nicht normal.

Genau aus diesem Grund genießen Persönlichkeiten wie der oppositionelle Aktivist Alexei Nawalny keine große öffentliche Unterstützung. Nawalnys Vokabular ist dem Volk fremd. Opposition wird als Abweichung verstanden.

Aktivisten? Nichts als Taugenichtse

In der politischen Arena gibt es viele, auch hochgestellte Personen, die den Präsidenten Wladimir Putin kritisieren. Sie werden vom Volk aber nicht ernst genommen. Die meisten Russen arbeiten sehr hart – immer im Hinblick auf ein großes Ganzes. Zivilgesellschaftliche Aktivisten, die die russische Regierung – die das große Ganze symbolisiert – kritisieren, sind in ihren Augen nichts als Taugenichtse.

Die liberale Opposition Russlands lebt in einer anderen Welt als die Mehrheit der Bevölkerung. Sie fordert Dinge, die das einfache Volk nicht notwendig braucht, wie das Recht, demonstrieren gehen zu können. Stabilität und Sicherheit sind den meisten Russen weitaus wichtiger als das Recht auf Eheschließung homosexueller Paare. Einen Maidan wie in Kiew auch im Zentrum der eigenen Hauptstadt und damit das Risiko, dass dies den Zerfall der Gesellschaft einleitet, sind das Letzte, was ein einfacher Russe möchte.

Der Autor

Andrei Stanko, 31, Historiker und Journalist aus Nischni Nowgorod.

In den 1990er Jahren waren die Leute in Russland permanenter Unsicherheit ausgesetzt. Deshalb sind sie zu vielem bereit, sogar dazu, in einer unfreieren Welt zu leben, solange ihnen Stabilität geboten wird. Regionale Regierungen werden von den Einwohnern und der Presse aktiv kritisiert, auch wenn diese Kritik selten zu einem Ergebnis führt. Die zentrale Macht aber, der Kreml und der Präsident, stehen weitaus seltener in der Kritik. Das neue Feindbild ist die ukrainische Regierung, die mit antirussischer Rhetorik gegen den Kreml vorgeht und so den Zorn einfacher Bürger auf sich zieht.

Auf der anderen Seite erhalten Menschen, die erfolgreich gegen bestehende Ungerechtigkeiten vorgegangen sind, auch viel Zuspruch. Jewgeni Roismann, Gründer des Fonds „Stadt ohne Drogen“, unterstützte im Jekaterinburg der 1990er Jahre Drogensüchtige in ihrem Entzug. Trotz mehrfacher Beschuldigungen, Roismann habe Kontakt zu kriminellen Kreisen, und trotz seiner harten Methoden im Kampf gegen die Drogensucht stand das Volk hinter ihm. Vergangenes Jahr wurde er zum Bürgermeister von Jekaterinburg gewählt.

Aktionen aus der Gesellschaft heraus

Um selbst aktiv zu werden, müssen die Menschen bis zum Äußersten getrieben werden. Mit der Aktion „Blaue Eimerchen“, die 2010 vom Magazin Russkij Reporter initiiert und in vielen russischen Städten durchgeführt wurde, ging man gegen die Sonderrechte russischer Beamter vor. Diese setzen ihren Autos oft ein Blaulicht auf, um im Verkehr Vorfahrt zu haben. Durch ihr rücksichtsloses Verhalten verursachen sie häufig Unfälle. Aktivisten begannen, blaue Eimerchen aufs Dach ihrer Autos zu setzen. Viele Menschen taten es ihnen nach, das Sonderrecht der Beamten wurde nach einiger Zeit zum Großteil beschnitten.

Wichtig bei Beispielen wie diesem ist es, dass die Aktion keinen Anführer hatte. Sie entstand aus der Gesellschaft heraus.

Die westliche Gesellschaft muss verstehen, dass der Kollektivismus bis heute die Basis der russischen Mentalität bildet. Jeder möchte Teil einer starken Gemeinschaft sein. Wladimir Putin kann dieses Streben für sich nutzen und bietet den Menschen wieder die Rückkehr aus der gesellschaftlichen Isolierung hin zur Einheit an. Die Russen dankten es ihm, indem sie ihn in der Annexion der Krim unterstützten. Es wäre falsch anzunehmen, dass der Kollektivismus und die Verehrung der Machthabenden etwas Künstliches, von außen Eingebrachtes oder Erzwungenes ist. Es gehört unabdingbar zur russischen Mentalität.

Mit der Zeit ändert sich vieles, aber es werden in Russland wohl noch Jahrzehnte vergehen, bevor man der Person, die nicht die Meinung der Mehrheit teilt, nicht mehr sagt: „Schuster, bleib bei deinem Leisten.“

Aus dem Russischen von Irina Serdyuk und Ljuba Naminova

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7 Kommentare

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  • interessanter einblick. ich frage mich nur, wieviele aus dem kollektiv von den 150 mio russen auch mal ein kritischen gedanken hatten, zum beispiel was wohl mit den krimbewohnern passiert, die jetzt nicht unbedingt so darauf brannten, heim ins reich zu den russen zurueckzukehren. bei konflikten, wo nicht alles so supi laeuft nach russenmanier. sondern eher an die borg erinnert. kommt dann auch der reflex: ´was muckst du auf?´ gegenueber krimtartaren und ukrainischstaemmigen?

    und gern haett ich noch etwas gewusst ueber das verhaeltnis des kollektivs, das sich ja frueher selbst organisierte, heute sich einen fuehrer wuenscht und ihm sich hoerig unterwirft. wie sich dieser widerspruch erklaert, aus einer gesellschaftsform kommend, in der es nicht als ehrenvoll galt, wohlhabend zu sein und die kirche reichtum mit suende gleichsetzte, man heute eine gesellschaft vorfindet, die 1% supersuperreiche hat, die nicht muede wird mit dem wohlstand zu prahlen und kirchenoberhaeupter, die schwer alkoholisert ihren maybach zu schrott fahren. was aber scheinbar alles ohne murren hingenommen wird.

     

    Sowieso galt es nicht als ehrenvoll, wohlhabend zu sein. Der orthodox-christliche Glaube setzte Reichtum mit Sünde gleich.

  • Der Artikel spricht viel Wahres an. Man könnte vielleicht noch ergänzen, dass es der Masse der Individualisten nur gut gehen kann, wenn es der Allgemeinheit einigermaßen gut geht. Die Russen mussten unter Jelzin schmerzlich erfahren, dass es in einem nicht funktionierenden Staat nur für eine kleine Gruppe Gauner möglich ist, ihr individuelles Glück zu verwirklichen. Die Folge ist, einem starken Staat mehr Gewicht einzuräumen, als der persönlichen Freiheit des einzelnen Bürgers.

  • 2G
    2422 (Profil gelöscht)

    Die sogenannte "Volksseele" finden die, die so etwas brauchen, überall, egal ob es sich um das "eigene" Volk handelt oder um das "fremde" Volk. Die Frage ist, warum man so etwas braucht. Die Angst vor dem Fremden scheint mir manchmal fast angeboren. Doch eigentlich sind die sog. Fremden immer auch wie wir, wir teilen mit ihnen ein gemeinsames existentielles Schicksal, wir haben die gleichen psychischen Bedürfnisse und Mechanismen. Im Kollektiv fühlen wir uns übrigens - wie zuletzt bei der WM zu beobachten – (fast) alle wohl, nicht nur die Russen.Der Begriff "Kollektivismus" wurde übrigens auch bei den Nazis gerne zur Charakterisierung der "russischen Seele" verwendet. Um die Menschen davor zu schützen, auch im Russen sich selber zu sehen. Und in der Folge 25 Millionen von denen um ihr Leben zu bringen.

  • Wenn der Westen tun und lassen kann was er will, werden sie sehen: das in Amerika die breite Masse auf dem Niveau von 14 Jährigen stecken bleiben.Darüber hinaus schwillt nur die Neo Reklame, die Monotonie des anschwellenden Abbruchs des ganzen als lästige Erfindung.Alles ist auf Konsum angelegt, weniger auf Geist und Entwicklung(den besitzen nur die oberen u.mittleren Klassen).

  • "Die westliche Gesellschaft muss verstehen, dass der Kollektivismus bis heute die Basis der russischen Mentalität bildet."

     

    Es gibt eine Art Volkssport unter den Journalisten in Russland, die für die Deutschen schreiben, den man nennen könnte - Wie verarsche ich die Deutschen?

     

    Um "die Deutschen" zu verarschen, schreibt man über "die Russen". Dabei benutzt man die einfachere Methode, man nimmt die Ideen aus der alten Zeit, am besten aus der "Drang nach Osten" Zeit und betreibt die Kollektivpsychologie. Die Wehrmachtreiseliteratur im Osten hat viel Stoff hinterlassen und bietet eine reichliche Quelle. Da kommt dieser Russe her. Man muss es nur modern machen und statt Stalin Putin rein schreiben. Und fertig ist die Verarschung)

     

    Na ja, zugegeben, dass man über "die Deutschen" heute in den TAZ-Analogen Russlands auch ähnlich schreibt. Man erkennt immer unter der Maske eines Deutschen eine blonde, blauäugige Bestie, die die SS-Uniform als wahre Haut trägt.

     

    So viel über den deutsch-russisch Bilderaustausch.

    • @Gregor Hecker:

      Dann tragen Sie doch bitte zur Aufklärung bei, anstatt den Artikel nur zu verreißen. Ich fand selbigen nämlich Recht interessant.

      • @Micha Mille:

        "Um es zu verstehen, muss man einen tiefen Blick in die russische Geschichte und die russische Seele werfen."

         

        Aufklärung über "die russische Seele"?

         

        Das wäre doch Parodie des Denkens, Komödie, und typische Verarschung der Deutschen in der Befriedigung der Stereotype.

         

        Und wenn man sogar aus der Wiki zitiert, so ist:

         

        "Die „russische Seele“ wird als ein Zustand der permanenten Bipolarität, also ein Hang zu extremen Gegensätzen beschrieben, der sich durch die Aufnahme von extremen Gegensätzen in die russische Volkskultur ergeben hat. Diese Extreme äußern sich z. B. in dem Streben nach dem absolut Äußersten, mit der Bereitschaft, sich entweder nach der einen oder plötzlich und ganz spontan in die entgegengesetzte Richtung zu wenden."

         

        Das heißt in diesem Kontext; dass "die Russen" extreme Individualisten sind, beinahe Anarchisten schlimmster Art, die ein Kollektiv brauchen, um diesen Grundzug zu verdecken, oder unterdrücken.

         

        Wobei ist es wieder ein bipolarer Stereotyp.

         

        Und welche "die Russen"? Aus Sibirien, oder aus dem Kaukasus, aus Zentralasien, oder Königsberg?

         

        ist ne Verarschung diese "die Russen")