Konferenz-Initiator über Straßenkinder: „Schwierige nicht aussondern“
Jörg Richert will betroffene Jugendliche über ihre Situation beraten lassen. Er fordert, dass Jugendwohnungen Unangepasste nicht mehr rauswerfen dürfen.
taz: Herr Richert, warum lädt Ihr Verein „Karuna“ zur Bundeskonferenz der Straßenkinder?
Jörg Richert: Es gibt viele junge Menschen, die die Jugendhilfe einfach nicht mehr erreicht. Das geht so nicht weiter. Wir brauchen neue Ideen. Und die können diese Jugendlichen sehr gut selber entwickeln.
Wie viele Straßenkinder gibt es?
Die 26 Hilfeeinrichtungen des „Bündnisses für Straßenkinder“ haben im Jahr etwa 12.000 Kontakte. Es gibt aber noch mehr Hilfeeinrichtungen. Wir schätzen, dass 20.000 Jugendliche ihren Lebensmittelpunkt auf der Straße haben. Allein in Berlin versorgt „Karuna“ etwa 500 Jugendliche bis 21 Jahre.
Bis zu welchem Alter ist die Jugendhilfe zuständig?
Weil die Jugendlichen durch das Leben auf der Straße entwicklungsverzögert sind, ist die Jugendhilfe bis 21 zuständig. Das wird vom Jugendamt unterlaufen. Da heißt es, nach 18 ist Schluss. Es gibt bei den jungen Volljährigen einen Systemstreit, wer die Kosten übernimmt: die Jugendhilfe, die Jobcenter oder das Gesundheitswesen?
Vom 19. bis 21. September findet in der Montessori Schule in Berlin die 1. Bundeskonferenz der Straßenkinder statt, Motto: „Mein Name ist Mensch“. Angesprochen sind junge Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt auf Straßen und Bahnhöfen haben oder von Projekten der Jugendhilfe betreut werden. Erwartet werden etwa 100 Jugendliche aus Dresden, Ulm, Hamburg, Gera, Stuttgart, Bochum, Essen, Brunsbüttel, Bremen und Berlin. Vorbereitet wurde das Treffen von 15 Straßenkindern. Geplant sind Arbeitsgruppen unter anderem zu folgenden Themen: „Das Jugendamt + ich“, „Das Jobcenter + ich“ und „Mein Recht auf bezahlbaren Wohnraum.“ Anmeldung: www.strassenkinderkonferenz.jimdo.com.
Was läuft beim Jugendamt falsch?
Das geht oft schon beim ersten Kontakt schief. Aus Untersuchungen wissen wir, dass 70 Prozent dieser Mädchen und Jungen unter Traumatisierungen leiden. Deshalb müsste gleich ein Therapeut hinzugezogen werden. Nur der kann mit so einem Jugendlichen angemessen arbeiten, auch um keine Retraumatisierung auszulösen. Ich kenne kaum ein Straßenkind ohne komplexe posttraumatische Belastungsstörung. Aber Kinder- und Jugendpsychotherapeuten tauchen meist erst am Ende des Hilfeprozesses auf, wenn überhaupt. Je länger diese Jugendlichen auf der Straße leben, desto aussichtsloser ist eine psychische „Heilung“, von Gewalt- und Missbrauchserleben.
52, ist Geschäftsführer des Vereins Karuna, Zukunft für Kinder und Jugendliche in Not International, und Initiator der 1. Bundeskonferenz der Straßenkinder in Berlin.
Warum hilft die Jugendhilfe diesen Kindern nicht?
Es gibt in der stationären Jugendhilfe eine ausgeprägte Verbots- und Bestrafungskultur. Damit der Alltag Struktur hat, werden viele Regeln aufgestellt. Wer dagegen verstößt, wird bestraft. Oder es gibt ein perfides Bestrafen, das über Lob funktioniert. Passt du dich gut an, bekommst du was Schönes. Doch bitte, was bekommen Jugendliche, die ihre Handlungsprozesse nicht steuern können? Sie gehen leer aus. Erhalten keine Bestätigung für ihre Anstrengungen.
Um was für Regeln geht es?
Therapieeinrichtungen verbieten zum Beispiel den Kontakt zum anderen Geschlecht. Sagen Sie mal einem 16-Jährigen, er darf keine Beziehung zu dem hübschen Mädchen in seiner Jugend-WG haben. So können sie sich nicht auf das Leben nach der Jugendhilfe vorbereiten. Und wer immer wieder rausfliegt aus den Hilfemaßnahmen, läuft Gefahr, in einem geschlossenen Heim zu landen. Da ist dann alles verboten, bis auf Atmen.
Was muss passieren?
Auch die Jugendhilfe braucht Inklusion. Wir müssen aufhören, die Schwierigen auszusondern. Da bräuchte es einen richtigen Ruck. Was inzwischen die Schulen tun, muss auch die Jugendhilfe zum Ziel haben. Man könnte als neuen Qualitätsstandard für das betreute Jugendwohnen festlegen, dass Jugendliche nicht mehr aus disziplinarischen Gründen entlassen werden dürfen. Das A und O ist, Beziehungsarbeit zu leisten.
Und wenn einer raus will?
Freiwillig sollte ein Jugendlicher immer gehen können. Es geht hier um den Rauswurf. Das ist für einen Jugendlichen immer eine starke Belastung. Dass dies so regelhaft passiert, zeigt, dass unser gesamtes System krank ist.
Woran krankt es denn?
Ein Problem ist die Art der Finanzierung. Wir bräuchten mehr Hilfeeinrichtungen, die pauschal finanziert werden. Solange über „Fälle“ abgerechnet wird, haben die Einrichtungen ein Interesse, nur Kinder aufzunehmen, die wenig Arbeit machen. Wir von Karuna hatten früher eine Pauschalfinanzierung. Das rechnet sich für die Kommunen und fördert die Aufnahmebereitschaft gegenüber den schwerbelasteten jungen Menschen.
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