Journalisten im Krisengebiet: Voll draufhalten
Schicksale von der türkisch-syrischen Grenze sind begehrt, journalistisches Ethos scheint keine Rolle zu spielen. Doch nicht alle wollen sich damit abfinden.
SURUC taz | Gerade erst hat die Kurdin die Grenze zwischen Krieg und Frieden überquert. Jetzt sitzt sie auf einem weißen Sack, in dem ihr Hab und Gut eingepackt ist. Sie hat es geschafft, dem Tod zu entkommen. Sie weint, hält sich ihr Kopftuch vors Gesicht, sie schämt sich.
Einem Kameramann ist das egal: Er hält sein großes Objektiv direkt auf das Gesicht der Frau, natürlich hat er vorher nicht gefragt. Sie dreht sich weg, der Kameramann lässt sich nicht abhalten, er folgt ihr, rückt immer näher heran. Ein zweiter Kameramann macht es ihm nach. Die Frau ist den Dschihadisten des „Islamischen Staats“ (IS) entkommen. Jetzt wird sie von der internationalen Presse verfolgt.
Seit dem Vormarsch der Terrormiliz IS sind nach türkischen Regierungsangaben rund 160.000 Menschen aus der nordsyrischen Stadt Ain al-Arab, die die Kurden Kobane nennen, auf die türkische Seite der Grenze nahe der Stadt Suruc geflohen. Journalisten aus aller Welt sind angereist, um von der größten Flüchtlingswelle in der Türkei seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs vor dreieinhalb Jahren zu berichten.
In Sanliurfa, dem alten Edessa, der 30 Autominuten von Suruc entfernten Großstadt, ist kein einziges Hotelzimmer mehr frei – der internationale Tross der Journalisten ist hier, um aufzudecken, zu mahnen, zu kontrollieren. Aber wer kontrolliert eigentlich die Journalisten? Und wer schützt die Flüchtlinge vor der Meute?
Aufdringlich und unsensibel
In Krisengebieten wie hier sind Journalisten dazu angehalten, möglichst dramatische Beiträge und Bilder zu liefern. Da es sehr unwahrscheinlich ist, dass sich ein Flüchtling an der syrisch-türkischen Grenze an den Presserat oder die entsprechende Redaktion wendet, können Journalisten so aufdringlich und unsensibel sein, wie sie wollen. „Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst“, lautet ein altes Zitat. Es stirbt aber auch die journalistische Moral.
Selber Tag, selber Ort, wenige Stunden später: Drei schwerverletzte syrische Kinder werden über die Grenze gebracht, eine Mine ist in ihrer Nähe hochgegangen. Die Kinder werden im Notfallzelt ärztlich versorgt, ein Dutzend Fotografen drängelt vor dem Eingang.
Eines der Kinder muss mit einem Krankenwagen weggefahren werden, doch die Sanitäter haben Schwierigkeiten, das Kind durch die Pressegruppe hindurch zu bekommen. Nach wertvollen Minuten schaffen sie es doch, das Kind in das Auto zu legen, aber die Journalisten drängeln immer weiter, die Mutter des Kindes schreit. Dann endlich gelingt es, die Tür des Wagens zuzuschieben. Doch ein Kameramann reißt die Tür wieder auf, er will das Kind filmen.
Wer über den Krieg berichtet, der muss sich auch immer wieder fragen: Wie weit darf ich gehen? In Zeiten, in denen der Konkurrenzdruck immer größer wird, stellen sich diese Frage immer weniger Journalisten. Jeder will eine Geschichte, die die Kollegen nicht haben, jeder will ein Bild, dass es auf die Titelseite der New York Times schaffen könnte. Es gibt genügend Redaktionen, die das Material abkaufen. Vor allem Freie stehen unter Druck.
Doch nicht alles nahe Suruc ist ein Trauerspiel. Während die Kameraleute auf die weinende Frau draufhalten, geht eine Journalistin zu ihnen hin und mahnt: „Was ihr hier macht, ist einfach nur respektlos.“ Als sie sich umdreht, schaut die zuständige Redakteurin ihr mit einem giftigen Blick hinterher. Nachdem der Krankenwagen endlich los kann, geht ein Journalist auf den Kameramann zu, der die Tür aufriss. Ob er sich darüber im Klaren sei, dass er gerade das Leben eines Kindes gefährdet habe.
„Du hast gerade das Leben dieses Kindes gerettet. Dafür bekommst du bestimmt einen Preis“, antwortete dieser zynisch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke
Nach Diphtherie-Fall in Berlin
Das Problem der „Anthroposophischen Medizin“
Geschlechtsidentität im Gesetz
Esoterische Vorstellung
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Felix Banaszak über das Linkssein
„Für solche plumpen Spiele fehlt mir die Langeweile“
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod