Die Wahrheit: Sonntagsspaziergang mit Gauck
Früher verhasst, heute Teil des persönlichen Programms: das sonntägliche Herumgelatsche. Und wen trifft man da am See? Den Bundespräsidenten nebst Freundin
W ie habe ich es gehasst als Kind: Jeden Sonntag wurde ich „über den Wall geschleift“, wie es der Kabarettist Hanns Dieter Hüsch einst nannte. In unserem Heimatort gab es rund um das zentrale Schloss einen ehemaligen Befestigungswall, auf dem die Insassen der Stadt im Sonntagsstaat ihre Runden drehten und herzlichst Bekannte begrüßten, über deren Macken sie wenig später hinter ihrem Rücken genüsslich lästerten: ein immer gleiches, ödes Vergnügen.
Längst sind die studentischen Zeiten vorbei, und man schläft nicht mehr nach durchzechten Nächten bis in die Puppen. Der Sonntagsspaziergang gehört zum persönlichen Programm. Allerdings gibt es in Berlin mehr Ausflugsorte. An diesem ungewöhnlich warmen ersten Novembersonntag geht es hinaus zum Grunewaldsee. Ein buntes Gewimmel. Am Hundestrand tollen die Tölen glücklich herum, weil von den Leinen befreit.
Kaum hat man sich, um das Schauspiel zu betrachten, auf den zur Bank umfunktionierten Baumstamm gesetzt, lässt sich Joachim Gauck daneben nieder. Er ist es tatsächlich. Der Bundespräsident und seine Freundin Daniela Schadt. Hinter ihm bauen sich zwei Schränke mit Knopf im Ohr auf.
Abends würde er eine der Hauptnachrichten der „Tagesschau“ liefern und als Linkenfresser vor dem ersten linken Ministerpräsidenten warnen wie der Weihwasserwart vor dem Teufel. Überhaupt ist der Pastor aus dem Osten derzeit, vor dem 25. Jubiläum des Mauerfalls am 9. November, überall präsent. Und nun sogar am Hundesee.
Geputzte Menschen am Wasser. Ein Terrier jagt einen Windhund. Ein Retriever nimmt einen Mops von hinten. Heulend fällt ein Kind um, denn ein Dackel hat sich dessen gelbe Windmühle geschnappt. Jetzt wetzt der Dieb mit seiner Beute davon. Harte Befehle werden gebellt: „Hierher! Sitz! Aus!“ Ungerührt glitzert der vom Eise noch nicht begrabene See vor sich hin. Und der Bundespräsident sitzt da und sagt nichts. Irgendwo bellt ein Hund. Eine deutsche Idylle.
Kaum ein Frauchen oder Herrchen erkennt Gauck. Ist er doch eher unscheinbar. Jetzt stellt sich dennoch eine Dame vor uns und zückt ungeniert ihr Mobilgerät für ein Foto. Dann wird man wohl heute Abend in irgendeiner Runde begutachtet werden: „Und neben dem Gauck, sind das seine Kinder?“
Nach zwanzig Minuten erhebt sich das Staatsoberhaupt wort- und grußlos. Hätte man etwas sagen sollen? Und das Stillleben zerstören? Etwa mit einer flapsigen Bemerkung zur aktuellen Politik, damit es richtig peinlich geworden wäre?
Es wird sich nie etwas ändern am ewig gleichen Lebensrhythmus, wie schon Faust beim berühmtesten Sonntagsspaziergang der deutschen Literaturgeschichte erkannte, als ihn sein Adlatus aus der vernebelten Gelehrtenstube zerrte: „Hier ist des Volkes wahrer Himmel, zufrieden jauchzet groß und klein; hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!“ Das ist des Pudels wie des Gaucks Kern: Ob vor hundert oder fünfhundert Jahren, ob Krieg oder Frieden, ob Diktatur oder Demokratie – der Sonntagsspaziergang ist unkaputtbar.
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