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Obdachlose in MarseilleGelbes Dreieck für Clochards

In Marseille sollen Obdachlose einen markierten Ausweis tragen. Der Bürgermeister sieht kein Problem. Dabei ist die historische Analogie offensichtlich.

Schön ist es in Marseille. Aber hier obdachlos sein? Besser nicht Bild: imago/Westend61

PARIS taz | Auch in Marseille ist der Weg zur Hölle mit guten Absichten gepflastert. Im Rathaus der zweitgrößten Stadt Frankreichs hatte man sich den Kopf zerbrochen, wie den immer zahlreicheren auf der Straße lebenden Obdachlosen wirksamer geholfen werden könnte.

Irgendwer kam dann auf die gloriose Idee, den Clochards, die gerade im Winter oft Hilfe benötigen, einen speziellen Ausweis auszustellen. Darauf sollen alle wichtigen Angaben stehen, die beispielsweise im Krankenhaus oder in einer Notunterkunft benötigt werden. Darum sollen die betroffenen Menschen ihre Karte für Rettungsteams gut sichtbar mit einem Band um den Hals oder auf dem Rucksack befestigt tragen.

Gesagt, getan. In Zusammenarbeit mit der kommunalen Organisation „Samu social“ und deren freiwilligen Helfern wurde das Projekt rasch realisiert. Vielleicht etwas zu rasch? Die auf ihre Sozialpolitik äußerst stolzen Stadtbehörden verstehen nicht, warum ihre Initiative jetzt so viel empörte Kritik erntet. Ein Blick auf den bereits in mehr als 300 Exemplaren an Obdachlose verteilten Ausweis genügt allerdings, um zu begreifen, was da Anstoß erregt.

Auf der Vorderseite ist ein großes gelbes Dreieck abgebildet, auf dem bei näherem Hinschauen noch eine Art Thermometer zu sehen ist, das einem auf dem Kopf stehenden Ausrufezeichen gleicht. Ein gelbes Dreieck auf der Brust, musste das nicht an den Präzedenzfall der Judenverfolgung erinnern? Das jedenfalls war die spontane Reaktion aller anderen Hilfsorganisationen, die nicht verstehen, dass die Stadtbehörden von Marseille nicht die schockierende Analogie zum gelben Davidstern erkennen, den die Juden in Frankreich während der Nazi-Besetzung tragen mussten.

„Absurde Polemik“

Mit einem von Weitem erkennbaren gelben Dreieck also werden die „Sans domicile fixe“ (SDF) auch für die Passanten sofort als Clochards erkennbar gemacht. Dass dies der Diskriminierung und Isolation dieser auf der Straße (über)lebenden Menschen nicht unbedingt entgegenwirkt, ist für die französische Menschenrechtsliga LDH offensichtlich. Eine Gruppe mit dem Namen „Jugement dernier“ („Das jüngste Gericht“) organisierte am Mittwoch eine Protestkundgebung gegen das schändliche Dreieck der Diskriminierung.

Dieses Kollektiv erwähnt, dass auf dem umstrittenen Ausweis nicht nur der Name und die Sozialversicherungsnummer sowie die Blutgruppe der SDF stehen, sondern angeblich auch Informationen über Allergien oder chronische Krankheiten wie Aids oder Schizophrenie eingetragen würden. Wollen also die Stadtbehörden diesen Menschen am Rande der Gesellschaft wirklich helfen oder sie noch mehr marginalisieren, indem sie diese mit einem solchen Warndreieck kennzeichnen, fragt das Kollektiv.

Als „problematisch“ betrachtet dies auch das in Marseille tätige Rote Kreuz: Dieser um den Hals getragene Ausweis werde zu einem „Etikett“, das man auf diese Leute klebe. Bei „Secours populaire“, einer anderen Hilfsorganisation, wird darauf hingewiesen, auch die Hilfsbedürftigen hätten ein Recht auf Anonymität.

Der für die Aktion zuständige Vizebürgermeister Xavier Méry dementiert hingegen, dass vertrauliche medizinische Angaben vorgesehen seien. Er versteht ohnehin nicht, warum sich alle derart aufregen. Das sei eine „absurde Polemik“, meinte Xavier Méry. Offenbar fällt es dem selbst ernannten Gutmenschen im Rathaus von Marseille schwer, einen Fehler oder wenigstens seine historische Naivität einzugestehen. Jetzt fehlt nur noch das Argument, es sei ja ein Dreieck und kein Stern.

Auch der Leiter des sozialen Notrufs „Samu social“ möchte seine Adventskampagne keinesfalls abbrechen. Die Ausweiskarte erlaube es nämlich, den Obdachlosen zu sagen: „Ich existiere, ich habe einen Namen.“ Das mag durchaus sein. Den anderen Mitbürgern hingegen ermöglicht das Dreieck, diese Menschen auf einen Blick zu identifizieren – und sie erst recht zu meiden.

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8 Kommentare

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  • Den Ausweis einfach komplett abschaffen?

  • Mal was ganz anderes:

    "Offenbar fällt es dem selbst ernannten Gutmenschen im Rathaus von Marseille schwer, einen Fehler oder wenigstens seine historische Naivität einzugestehen."

     

    Das ist afaik das erste Mal, dass ich den Begriff des "Gutmenschen" jetzt auch in der taz wahrnehme bei einem dort verfassten Artikel. Bislang habe ich den nur als rechten Kampfbegriff gekannt, um Menschen, die sich mit solidarischen Engagement für andere einsetzen, herabzuwürdigen.

     

    Ich finde es etwas verwahrlosend in der Sprache, den Begriff hier so zu verwenden.

  • Um die Situation zu retten, könnte man den Ausweis einfach an alle Einwohner über 70 Jahren ausgeben. Die haben auch ein erhöhtes Risiko plötzlich zu erkranken. Außerdem könnte man Menschen aus anderen Risikogruppen einbeziehen, z.B. Epileptiker. Das erhöhte Krankheitsrisiko von diesen Menschen ist nämlich in der Gesellschaft weitgehend akzeptiert.

     

    Der Ausweis würde so zu einem allgemeinen medizinischen Notfall-Ausweis.

    • 9G
      970 (Profil gelöscht)
      @Eike:

      Der Zynismus mancher gutgemeinter Vorschläge ist schwer zu ertragen.

      • @970 (Profil gelöscht):

        Dem kann ich nur zustimmen :-/

    • @Eike:

      Am besten, jeder trägt künftig ein großes Schild auf dem Kopf, wo weithin lesbar alles draufsteht, was niemanden etwas angeht, bei Männern natürlich inkl. Schwanzlänge.

      • @Dudel Karl:

        Mal ganz ehrlich, niemand wird dazu gezwungen. Das ganze ist nur für Menschen bestimmt die freiwillig Hilfe haben wollen. In Deutschland gibt es Zb. geistig behinderte Personen, besonders oft Kinder, die Ausweise oder ähnliches für den Notfall um gehangen haben. Die machen das auch freiwillig so wie die Obdachlosen in Marseille. Ihre Polemik mit der "Schwanzlänge" finde ich völlig daneben