Beinahe vergessene Autorin Lili Grün: „Ich bin so scharf auf Seele“
Lili Grün wurde im Holocaust ermordet. Der Band „Mädchenhimmel“ lässt ihre Texte neu aufleben. Sie könnten von heute stammen. Fast.
„I bin doch ned deppat, i fohr wieder z’haus“, ruft der österreichische Kronprinz Franz Ferdinand nach dem gescheiterten ersten Attentat im Juni 1914. Er lässt seinen Tross sofort umkehren, das zweite, tödliche Attentat findet nicht statt, folglich fällt der Erste Weltkrieg aus, damit auch der Zweite Weltkrieg und der Kalte Krieg. Dafür ist Wien die bedeutendste Kulturmetropole der Welt, voller Psychoanalytiker und voller Juden. Denn auch der Holocaust fällt aus.
Dies ist der Ausgangspunkt des wunderbaren Romans „Der Komet“ des Journalisten Hannes Stein. Beiläufig tauchen darin historische Figuren auf, denen in dieser Alternativgeschichte ein ganz anderes Schicksal widerfährt: So gelangen Leo Trotzki und Theodor Herzl nur als Wiener Kaffeehausliteraten zu einem gewissen Ruhm, während Anne Frank für ihr Lebenswerk den Literaturnobelpreis erhält, aber mit ihrer Art, „ungefragt ihre Ansicht zu jedem Thema unter der Sonne“ kundzutun – unschwer ist das reale Vorbild zu erkennen – manchem Zeitgenossen als „schreckliche Nervensäge“ gilt. Es ist die Geschichte eines monströsen Verlustes, die Stein in unterhaltsamer Form erzählt.
Eine dieser vielen verlorenen Menschen ist die Wiener Autorin Lili Grün. Dem Aviva Verlag und der Herausgeberin Anke Heimberg ist es zu verdanken, dass ihr knappes Werk vor dem Vergessenwerden gerettet wurde. Nachdem dort in den vergangenen Jahren Grüns zwei Romane unter den neuen Titeln „Alles ist Jazz“ bzw. „Zum Theater!“ erschienen, liegt nun erstmals eine Sammlung ihrer Feuilletons und Gedichte vor, die zwischen 1929 und 1937 in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht wurden.
Lili Grün wurde 1904 als Tochter einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Wien geboren. Sie verlor früh ihre Eltern, kam in Kontakt mit linken Künstlern und ging Ende der zwanziger Jahre nach Berlin, wo sie sich als Schauspielerin und Autorin versuchte. Sie wurde Mitglied der Kabarett-Gruppe „Die Brücke“, musste ihren Lebensunterhalt aber als Verkäuferin in einer Konditorei bestreiten.
Dieses Leben zwischen großen Träumen und trüber Maloche spiegelt sich in vielen Texten wider: „Wenn ich auch nichts von den Dingen versteh’, / Eins weiß ich genau: / Es gibt ein eigenes Paradies für die Frau. / Für uns, die wir den ganzen Tag dienen. / In dunklen Büros bei den Schreibmaschinen“, beginnt das titelgebende Gedicht „Mädchenhimmel“.
Emanzipation und Bindung
Lili Grün: „Mädchenhimmel! Gedichte und Geschichten.“ Gesammelt, herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort von Anke Heimberg. Aviva Verlag, Berlin 2014. 192 S., 18 Euro.
Grüns andere große Thema sind die Frauen, die Männer, und das, was sie sich voneinander erhoffen, aber allenfalls nur kurzzeiti geben können: die Liebe. Sie beschreibt die kurzen Momente des Glücks, quälende Hoffnungen und viele kleine Enttäuschungen. Etwa, wenn sich der Mann mal wieder nicht auf die Frau einlässt und lieber Zeitung liest: „Da kann man wirklich nur weinen, ins andere Zimmer gehen und unverstanden sein.“
Getrieben von der Sehnsucht – und womöglich von der Furcht vor Langeweile, ein häufiges Motiv bei Lili Grün – sind diese Frauen selbstbewusst genug, um eine unglückliche Beziehung zu beenden: „Denn bis zum Tode bin ich dein, / Und noch im Grabe lieb’ ich dich, / Doch wenn schon einmal Schluß muß sein: / Den, Liebling, mache ich!“
Hannes Stein: Der Komet. Roman. Galiani, Berlin 2013, 272 S., 18,99 Euro
Emanzipation und Wunsch nach Bindung gehören zusammen, vielleicht besteht genau darin das Schlamassel, und ertragen lässt sich dieser Widerspruch nur mit Humor: „Mein letzter Freund war ein Jurist. / Ich bin seit dieser Zeit gegen Juristen.“ Doch freilich folgt auf jedes Ende ein neuer Anfang, stets in der Hoffnung, der Nächste möge der Richtige sein. Ein Mann müsse doch, schreibt sie an anderer Stelle, „nebst Verstand und anderen Gaben, / So etwas wie eine Seele haben. / Und ich bin so scharf auf Seele!“
Ein weiteres Gedicht, in dem sie ausführt, dass ein Mann „wird selbst nach langen Jahren / Fast jeder Frau eine Erinnerung bewahren“, hingegen „das Herz der Frauen“ ohne Gedächtnis sei und für den jeweils Neuen alle Vergangenheit zu vergessen bereit sei, endet mit der Pointe: „Sie ist ja so gern monogam, / Wenn man – sie läßt!“
Im Berlin von heute
Es sind präzise und gefühlvolle Beschreibungen des Großstadtlebens, humorvoll und selbstironisch erzählt, leicht melancholisch, ziemlich keck und sehr berührend. Ein Werk der Neuen Sachlichkeit, kühler als Mascha Kaléko, fröhlicher als Marieluise Fleißer, nah an Irmgard Keun und zuweilen – so im hinreißenden „Dialog mit Reflexionen“ – auch an Kurt Tucholsky.
Doch sieht man von der fehlenden expliziten Darstellung von Sexualität ab, könnte man Grüns Texte für zeitgenössische halten, die etwa an die taz-Kolumnistinnen Margarete Stokowski oder Franziska Seyboldt erinnern. So kann man sich Lili Grün gut im Berlin, Hamburg oder Wien der Gegenwart vorstellen; als junge Frau, die „was mit Medien macht“ und ihr Liebesglück sucht, in beidem mal mehr, mal weniger erfolgreich ist, und nicht nur für sich spricht, wenn sie darüber schreibt. Wären da nicht solche Sätze, die man heute nicht losgelöst vom Schicksal der Autorin lesen kann: „In den größten Schmerzen unseres Lebens sind wir allein.“
1933 kehrte Grün, inzwischen an Tuberkulose erkrankt, nach Wien zurück, wo sie nach dem Erscheinen ihrer Romane von ihrer Literatur leben konnte. Nach dem „Anschluss“ Österreichs verfolgt und schwer erkrankt, wurde sie, nach allem, was ihre Herausgeberin in Erfahrung bringen konnte, mehrfach „delogiert“ und lebte zuletzt in einem „Massenquartier“ für Juden im 1. Wiener Bezirk. Im Mai 1942 wurde Lili Grün ins Vernichtungslager Maly Trostinez in Weißrussland deportiert und am Tag ihrer Ankunft ermordet. Sie war 38 Jahre alt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Die Regierungskrise der Ampel
Schnelle Neuwahlen sind besser für alle
Bilanz der Ampel-Regierung
Das war die Ampel
Angriffe auf israelische Fans
Sie dachten, sie führen zum Fußball
Israelische Fans angegriffen
Gewalt in Amsterdam
Die Grünen nach dem Ampel-Aus
Grün und gerecht?
Folgen des Ampel-Aus für die Miete
Leerstelle Mieterschutz