„Libération“-Chef über Charlie Hebdo: „Der Fanatismus hat ein Eigenleben“
Alle Welt schaut in diesen Tagen auf die Tageszeitung „Libération“, die den Redakteuren von „Charlie Hebdo“ Asyl gewährt. Ein Interview mit Chefredakteur Laurent Joffrin.
taz: Monsieur Joffrin, die Mittwochsausgabe der Libération hatte die neue Ausgabe von Charlie Hebdo auf dem Titel und dazu die Schlagzeile „Je suis en kiosque“ (Ich bin am Kiosk). Wie hoch war Ihre Auflage an dem Tag?
Laurent Joffrin: Etwa 200.000.
Und die Tage davor?
Etwa gleich. Am Kiosk verkaufen wir ungefähr viermal so viel wie üblich. Die Gesamtauflage, inklusive Abo, liegt sonst bei etwa 90.000.
Charlie Hebdo im Haus und die Polizei vor der Tür, gibt es da Bedenken bei den Mitarbeitern?
Es hat keiner etwas gesagt. Wir haben lieber die Polizei hier. Das ist schließlich kein Witz. Das sind echte Mörder.
Allmählich zeigt sich, wie brüchig der Pariser Anschlag Frankreich gemacht hat. „Die Muslime werden dafür teuer bezahlen“, sagt Bestseller-Autor Taher Ben Jelloun in der Titelgeschichte der taz.am wochenende vom 17./18. Januar 2015 Und: „Charlie Hebdo“ spottet weiter: ein weinender Mohammed auf der Titelseite, im Heft Scherze über Dschihadisten. Die Streitfrage „Muss man über Religionen Witze machen?“ Außerdem: Keine Angst vor Hegel. „Viele denken, sie müssten das sorgfältig durchstudieren, wie über eine lange Treppe aufsteigen. Ich finde, man kann auch mittendrin irgendetwas lesen.“ Ein Gespräch mit Ulrich Raulff, dem Leiter des deutschen Literaturarchivs in Marbach. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Libération hat die Crew von Charlie Hebdo aufgenommen. In den angelsächsischen Ländern gibt es einen vorsichtigeren Umgang mit den Karikaturen. Viele Zeitungen haben sie nicht abgedruckt. Haben Sie dafür Verständnis?
Sie können machen, was sie wollen, aber sie liegen falsch. Demokratien sind in der Regel säkular, die Religion kann uns ihre Vorurteile nicht aufzwingen. Dafür gibt es Gesetze.
Der 62-Jährige ist seit Juni 2014 wieder Chefredakteur der französischen Tageszeitung Libération. Joffrin kam erstmals 1981 zu der einst von Jean-Paul Sartre mitbegründeten linken Tageszeitung, zwischendurch arbeitete er für afp und war dreimal Chefredakteur der Wochenzeitung Nouvel Observateur. Im Februar 2014 stand die Libération kurz vor der Insolvenz.
Wie lange wird Charlie Hebdo bei Libération bleiben?
So lange sie wollen.
Wie haben Sie diese Woche seit den Anschlägen erlebt?
Für uns war das hart, die Zeitungen stehen sich nahe, wir haben uns gut verstanden. Ich kannte den Zeichner Cabu sehr gut, Wolinski auch, seine Familie, das war ein Schock. Wir haben gearbeitet, das ist eine gute Therapie.
Wie kann man – auf lange Sicht – aus dem großen Einheitsgefühl des „Republikanischen Marschs“ in Paris, zu dem rund 1,5 Millionen Menschen kamen, Kapital schlagen?
Davon wird nicht viel bleiben. Der Kampf findet in den Köpfen statt. Diesbezüglich haben wir einen Punkt gemacht. Es hat sich gezeigt: Ein großer Teil der Franzosen tritt für die Werte von Gleichheit und Freiheit ein. Die Meinungsfreiheit ist bedroht – den Leuten liegt daran. Es war die größte Demonstration seit mehr als hundert Jahren, weil man einen sensiblen Punkt erwischt hat: die freie Meinungsäußerung. Die Leute wollen nicht, dass man daran rührt, dass man sie einschränkt.
Aber es gibt auch Stimmen, die sagen: „Ich bin nicht Charlie“.
Niemand muss Charlie lieben. Aber die Leute haben für ein Prinzip demonstriert: das Prinzip, sagen zu können, was man will. Im Rahmen der Gesetze. Aber es gab natürlich Leute, die nicht mitlaufen wollten, weil sie denken, dass Charlie den Muslimen Unrecht tut. Ein Teil der Muslime, die eher fundamentalistisch orientiert sind oder sich vom Rest der Gesellschaft ohnehin abkoppeln. Sie sind der Meinung, dass man die Gesetze des Islam respektieren sollte, aber das ist nicht unser Konzept. Die französische Republik lässt sich nicht von religiösen Vorbehalten beeinflussen.
Auf der Redaktionskonferenz am vergangenen Freitag gab es eine lebhafte Diskussion zwischen Ihnen und den Redakteuren über die eventuelle Beteiligung des Front National am „Republikanischen Marsch“. Ihre Mitarbeiter sahen das anders als Sie.
Ich finde, zu so einem Marsch soll kommen, wer will. Man kann keine Teilnehmer aussortieren. Es war ein taktischer Fehler, sie denken zu lassen, es gäbe eine Art Ausschluss ihrer Gruppe, der Mitglieder des Front National. Sie fühlen sich diskriminiert. Politisch ist das ein Fehler. Das soll nicht heißen, dass Marine Le Pen eine Partei wie alle anderen führt. Ganz und gar nicht. Aber wenn man ihre Wähler zurückholen will, dann muss man mehr an die republikanischen Gefühle appellieren und es nicht wie der Front National machen.
In den letzen Tagen hat es verschiedene Anschläge auf islamische Einrichtungen gegeben. Wird Marine Le Pen von den Ereignissen profitieren?
Ich fürchte ja. Da die Attentate leider im Namen des Islam begangen werden. Das ist eine fehlgeleitete, falsche Idee des Islam. Man muss deswegen sehr genau unterscheiden zwischen der großen Menge von Muslimen, die sich integrieren wollen, ihren Platz in der Gesellschaft haben wollen. Und dann gibt es die kleine Minderheit der Fundamentalisten, innerhalb derer es wieder eine noch kleinere Minderheit gibt, eine Minderheit der Minderheit, die gewaltbereit ist.
Hat Präsident François Hollande gute Arbeit geleistet? Sein Premierminister Manuel Valls hat in der Nationalversmamlung eine bedruckende Rede gehalten. Und die anderen Politiker wie Expräsident Nicolas Sarkozy – wer hat eine gute Vorstellung gegeben?
Manuel Valls und François Hollande waren gut, aktiv, agierten würdevoll. Sie haben die richtigen Worte gefunden, das finden alle, nicht nur ich. Hollande hat die Vorstellung widerlegt, dass er nicht dazu imstande sei, Präsident zu sein. Er war der Präsident, daran war nicht zu zweifeln. Er hat deutlich an Popularität hinzugewonnen. Bei Sarkozy gab einen kleinen Zwischenfall: Bei dem Marsch befand er sich im offiziellen Block erst in zweiter oder dritter Reihe, er hat sich dann nach vorne gemogelt, um mit den anderen mit auf dem Bild zu sein.
Es gibt Juden in Frankreich, die Angst haben. Vor den Muslimen. Und es gibt Muslime, die Angst haben. Vor den Franzosen. Die Angst vor dem Islam nimmt zu.
Viele Muslime sind Franzosen.
Aber sie fühlen sich nicht als Franzosen.
Sie sind nicht integriert in die Gesellschaft. Aus sozialen und aus psychologischen Gründen.
Was wiegt mehr?
Der Fanatismus ist nicht nur ein Resultat sozialer Schwierigkeiten. Er kommt ja zum Beispiel aus Saudi-Arabien, einem der reichsten Länder. Es ist das Land, das den Islam am striktesten auslegt. Der Fanatismus hat ein Eigenleben.
Sind die Franzosen besonders empfänglich für Islamfeindlichkeit? Hat das mit dem Kolonialismus zu tun?
Nein, gar nicht. Eher mit der Konzentration von Einwandern in bestimmten Vierteln. Die Franzosen haben das Gefühl, nicht mehr zu Hause zu sein. Deswegen sind sie verunsichert in ihrer Identität. Sie sind arm, das Zusammenleben gestaltet sich schwierig. Und wenn die Leute sehen, was passiert, bewirkt das ein Gefühl des Misstrauens, das man bekämpfen muss. Das ist im Übrigen noch nicht die Mehrheit. Le Pen hat nur 25 Prozent der Wähler hinter sich. Aber es gibt eine diffuse Beunruhigung, die sich auch in den Medien und bei den Intellektuellen wiederfindet. Die Identitätsdebatte nimmt viel Raum ein, leider.
Ist Frankreich bereits ein gespaltenes Land?
Es gibt eine Kluft, in bestimmten Vierteln, in sozialer, in religiöser, in kultureller Hinsicht. Frankreich ist im Moment schwer zu regieren.
Stößt das französische Modell der Religionsneutralität an seine Grenzen?
Nein, das glaube ich überhaupt nicht. Es wurde gerade mit großer Mehrheit befürwortet.
Aber es ist schwierig, die religiöse Erziehung zu kontrollieren.
Die Vertreter der muslimischen Verbände waren gut. Der Direktor der Großen Moschee in Paris, der Präsident des UOIF (Union Islamischer Organisationen Frankreichs), sie haben die Attentate verurteilt, ihr Beileid ausgesprochen, sich solidarisch gezeigt, sie haben sich mit den französischen Politikern und mit den Vertretern der jüdischen Gemeinschaft getroffen. Sie haben ihren Job hervorragend gemacht, da gibt es nichts dran auszusetzen.
Fürchten Sie den Sieg von Marine Le Pen?
Nein, die Mehrheit der Franzosen wird sie nicht wählen. Wenn, dann in der Stichwahl.
Gegen Sarkozy?
Wir werden sehen. Hollande hat einiges wettgemacht.
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