piwik no script img

tatort Norddeutschland

In puncto Kriminalität besteht das Nord-Süd-Gefälle weiter, behauptete der Freiburger Max-Planck-Forscher Helmut Kury kürzlich auf einem Kongress. Die taz nord fragte nach. Und stellt die Kommissare vor, die im Norden gegen das Verbrechen kämpfen

Gewaltkriminalität ensteht vor allem dort, wo der Unterschied zwischen arm und reich besonders groß ist

Interview: Daniel Wiese

Die Gewaltbereitschaft ist im Norden Deutschlands höher als im Süden. Die Scheidungsraten aber auch. Ein Gespräch über die Zusammenhänge mit dem Freiburger Kriminologen Prof. Dr. Helmut Kury.

Herr Kury, Sie haben auf einem Kriminologenkongress die Behauptung aufgestellt, dass im Norden Deutschlands doppelt so viele Gewaltverbrechen verübt werden wie im Süden.

Helmut Kury: Die Zahlen, die ich da präsentiert habe, beruhen auf einer Studie, die die Situation vor etwa zehn Jahren dargestellt hat.

Ist das immer noch so?

Es ist immer noch so, aber nicht mehr in diesem Ausmaß. Immer noch hat der Norden eine höhere Kriminalitätsbelastung, zumindest eine höhere offiziell registrierte. Nach einer neueren bundesweiten Opferstudie zeichnet sich allerdings auch im Dunkelfeld eine höhere Opferbelastung im Norden ab, auch wenn die Unterschiede nach diesen Erkenntnissen nicht mehr so deutlich sind wie vor zehn Jahren.

Wenn nicht mehr doppelt so viel, wie viel mehr ist es dann?

Vielleicht ein Viertel oder zwanzig Prozent.

Also ist der Norden immer noch krimineller als der Süden.

Man muss vorsichtig sein mit dem Wort „kriminell“. Kriminalität ist ein außerordentlich schillerndes Phänomen. Es gibt Kollegen, die sagen, dass die Zahlen damit zusammenhängen, dass im Norden mehr angezeigt wird als im Süden. Aber meines Erachtens nach erklärt das nicht den gesamten Sachverhalt.

Was wäre denn die Erklärung?

Die Erklärung liegt meines Erachtens nach auch in sozialstrukturellen Variablen. Es ist offensichtlich so, dass der Norden eine höhere Armutsquote hat. Wir sind gerade dabei, die neusten Zahlen zu prüfen, aber vor zehn Jahren war es auf alle Fälle so. Es scheint sich etwas angeglichen zu haben, aber die sozialen Probleme scheinen im Norden nach wie vor etwas größer zu sein als im Süden.

Und was ist mit Städten wie Hamburg? Denen geht es doch gut.

Hamburg ist eine Großstadt, es ist ja eine Hafenstadt, eine internationale Stadt. Weltweit hat man immer wieder festgestellt, dass, je größer die Urbanität, also je dichter die Bevölkerung zusammenwohnt, umso höher ist die Kriminalität.

In dem Fall gewinnt also der Urbanitätsfaktor.

Kriminalität hängt natürlich nicht nur von sozialen Faktoren ab, sondern auch von der Gelegenheitsstruktur. Denken Sie an die Supermärkte. Wenn es keine Supermärkte gibt, gehen die Ladendiebstähle zurück.

Gibt es soziale Brennpunkte, an denen der Norden besonders gewalttätig ist?

Wir haben unsere Untersuchungen innerhalb der Bundesländer nicht weiter differenziert, weil da die Zahlen zu niedrig waren. Normalerweise ist es so, dass Gewaltkriminalität vor allem auch dort entsteht, wo der Unterschied zwischen arm und reich besonders groß ist. Aber unter Umständen könnte auch das Problem des Alkohols im Norden ein anderes sein, aber da bin ich mir nicht sicher.

Also dass im Norden mehr getrunken wird.

Also man weiß es zum Beispiel von Finnland, aber natürlich ist Finnland nicht Schleswig-Holstein.

Gibt es so Faktoren wie Landschaft, also diese endlose Weite, die die Menschen vielleicht depressiver macht?

Es wird vermutlich dann eher damit zusammenhängen, dass die Tage kürzer sind, also gerade in den hoch nordischen Ländern wie Finnland. Ich habe kürzlich mit einem Kollegen aus Helsinki gesprochen, der hat gesagt, bei uns ist es halt immer dunkel. Das erhöht zum Beispiel die Depressivität, das erhöht den Alkoholkonsum.

In Hamburg sind die Tage jetzt auch schon eine Stunde kürzer als im Süden, glaube ich.

Das kann natürlich mit eine Rolle spielen. Wenn es länger dunkel ist, sind die Leute vielleicht eher geneigt, Alkohol zu trinken, dann werden vielleicht auch mehr Einbrüche gemacht, aber das ist natürlich mehr oder weniger eine Spekulation.

Auf dem Kriminologenkongress haben sie auch gesagt, dass es in Schleswig-Holstein mehr Selbstmorde gibt.

Ich denke, dass das auch mit sozialen Problemen zu tun hat, nicht unbedingt mit Wohlstand. In Japan ist die Selbstmordrate auch relativ groß, weil auch der soziale Druck und die Einengung relativ groß sind.

Es gibt im Norden auch mehr tödliche Verkehrsunfälle. Woran könnte das liegen?

Ja, das waren Straßenverkehrsunfälle mit Personenschaden, die müssen nicht unbedingt tödlich sein, aber immerhin ist eine Person verletzt worden. Wir wissen nicht, woran das im Einzelnen liegt. Aber die Zahlen sind klar: es waren in Schleswig-Holstein 613 auf 100.000 Einwohner, in Baden-Württemberg nur 435. Bayern interessanterweise war wieder höher, 533. Das kann unter Umständen auch mit Alkohol zusammenhängen.

Auf dem Kongress haben Sie auch die höheren Scheidungsraten im Norden erwähnt.

Es gibt einige Leute, die sagen, dass das Nord-Süd-Gefälle auch was mit Religion zu tun hat. Der Süden ist vor allem katholisch, der Norden protestantisch. Eine Ehe kann ja nach dem katholischen Glauben nicht geschieden werden, wenn nicht ganz gravierende Gründe dagegen sprechen. Und wenn man sich scheiden lässt, kann man nicht neu heiraten. Nach evangelischem Recht ist diese Regel ja nicht so strikt. Unter Umständen könnte es sein, dass der Druck der evangelischen Kirche, sich nicht scheiden zu lassen, geringer ist. Es könnte sich aber auch mit sozialstrukturellen Variablen erklären lassen: der Mann wird arbeitslos oder wird zurückgestuft, dass sich das auch auf die Familie auswirkt. Einer der häufigsten Streitpunkte in der Familie ist ja Geld.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen