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Pädagogin über Sex-Aufklärung in SchulenTeenager-Liebe

Sollen Lehrer mit Schülern über Analverkehr, Sexting und Pornografie sprechen? Pädagogik sollte aufgreifen, was Schüler bewegt, so Elisabeth Tuider.

Spaß mit lustigen Würmchen. Fortschrittliche Sexualpädagogik zeigt wie Bild: dpa
Simone Schmollack
Interview von Simone Schmollack

taz: Frau Tuider, der Landtag in Niedersachsen hat kürzlich beschlossen, sexuelle Vielfalt in der Schule zu thematisieren. Ist Niedersachen aufgeklärter als Baden-Württemberg, wo es dagegen massiven Widerstand gibt?

Elisabeth Tuider: Wir beobachten derzeit bundesweit eine intensive Debatte zur sexuellen Vielfalt und Sexualpädagogik. Im Gegensatz zu Berlin, wo sexuelle Vielfalt schon seit Jahren im Bildungsplan verankert ist, wird das in anderen Bundesländern heftig diskutiert. Aus Sicht der Pädagogik ist ganz klar: Vielfalt existiert, deswegen ist sie auch in der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit zu berücksichtigen.

Für Ihr Buch „Sexualpädagogik der Vielfalt“ bekommen Sie seit einiger Zeit Morddrohungen. Was haben Sie an der 2012 erschienenen 2. Auflage gegenüber der Erstauflage von 2008 verändert, dass es solche Wellen schlägt?

Das ist mit der Auflage nicht erklärbar. Sondern eher mit allgemeinen Angriffen auf Sexualpädagogik und Geschlechterforschung. Teil der sexistischen, homo- und transphoben sowie rassistischen Attacken ist es, dass nicht mehr oder nur über einen auserwählten Aspekt von Sexualität gesprochen werden soll.

Sexuelle Vielfalt

Der Streit: Seit Monaten tobt in Baden-Württemberg eine Debatte über den Bildungsplan. Der sieht vor, dass in der Schule auch über sexuelle Vielfalt gesprochen wird. Dagegen wehrt sich ein Bündnis „Kein Bildungsplan unter der Ideologie des Regenbogens“, unter anderem mit einer Petition. Dazu gehören Eltern, christliche Verbände und Parteien wie die AfD.

Das Buch: „Sexualpädagogik der Vielfalt“ erschien 2008. Die 1. und die 2. Auflage (2012) blieben zunächst weitgehend unbeachtet. Bundesweite Aufmerksamkeit gewann das Werk, als der Schriftsteller Akif Pirinçci 2014 auf seiner Facebook-Seite gegen die Autorin Elisabeth Tuider hetzte und zum Mord an ihr aufrief. (sis)

Über welchen?

Über Heterosexualität in der Ehe, um Kinder zu zeugen. Zudem wird Geschlechterforschung vielfach als Angriff auf Männer denunziert. Und Sexualerziehung in der Schule, das heißt das Sprechen über Sexualität, wird fälschlicherweise als Sexualisierung von Jugendlichen interpretiert.

Die Anfeindungen richten sich explizit gegen Sie und Ihr Buch.

Das hat Methode. Vor allem Frauen, die geschlechterpolitische Inhalte thematisieren, sind vielfach Beleidigungen und Bedrohungen ausgesetzt. Auf diesen Cybersexismus hat kürzlich auch die Gleichstellungsministerkonferenz hingewiesen. Die Bedrohungen gehen von Menschen aus, die denken, dass sie von neuen Lebensentwürfen umzingelt seien, die ihnen die Macht streitig machen.

Die Menschen sind zufällig auf Ihr Buch gestoßen und empören sich nun darüber?

Nein, der Ursprung ist in Blogs und Foren zu suchen, die im weitesten Sinne rechtskonservativen Kreisen um die AfD zuzuordnen sind. Außerdem gab es 2012 weder eine Buchpräsentation noch irgendetwas, das Aufmerksamkeit auf das Buch gelenkt hätte. Es gab damals auch keine Anrufe und Briefe besorgter Eltern. Die derzeitigen Darstellungen des Buchs haben nichts mit den fachlichen Debatten zu tun.

Stephan Röhl
Im Interview: Elisabeth Tuider

41, ist Erziehungswissenschaftlerin und Soziologin. An der Universität Kassel leitet die Professorin den Bereich Soziologie der Diversität.

Ihr Buch wird nun missbraucht für fragwürdige Bestrebungen?

Zumindest scheint es nur allzu gut als Angriffsfläche für ein politisches und mediales antifeministisches Klima zu funktionieren. Und für Parteien wie die AfD und Gruppierungen wie Pegida, die bewusst Vorbehalte gegenüber Vielfalt schüren wollen.

Die Ängste sind offensichtlich da, sonst würden nicht so viele Menschen auf die Straße gehen. Eltern wollen ihre Kinder schützen.

Zu Recht. Allerdings verdrehen diese Gruppen bewusst wissenschaftliche Arbeit und skandalisieren Dinge aus unserem Buch …

in dem unter anderem die Rede ist von Swingerklubs und von Analverkehr.

Einzelne Begriffe werden von Journalistinnen und Journalisten und in Internetkommentaren immer wieder aus dem Kontext gerissen, um bewusst Angst zu schüren.

Aber sie stehen drin. Wollen 14-Jährige das wirklich wissen?

Die sexualpädagogische Arbeit zeigt deutlich: Jugendliche interessieren sich vor allem für Liebe, Beziehungen und ihren Körper. Sie stellen sich Fragen wie: Wie komme ich rüber? Bin ich normal? Werde ich so gemocht, wie ich bin? Zudem bewegen sich Jugendliche heute in einer medial entgrenzten Welt. Mit ihren Smartphones können sie überall und jederzeit ins Internet. 40 Prozent der Jungen und 30 Prozent der Mädchen im Alter von 14 Jahren kennen bereits Pornografie. Aber dann haben sie Fragen, Sexualpädagogik schafft einen Raum, in dem Jugendliche ihre Fragen besprechen können.

Mit Hilfe Ihres Buches?

Das Buch ist ein Methodenbuch für pädagogisch Tätige, es ist kein Curriculum. Es bietet Vorschläge, wie Fragen zu Liebe und Sex in der Schule und in Jugendgruppen behandelt werden können.

Jüngere Jugendliche wollen in erster Linie wissen, wie sie an jemanden rankommen. Das lernen sie von Ihnen?

Nein. Im Buch gibt es ein Kapitel zur Beziehungsanbahnung, aber auch zum Schlussmachen. Außerdem Vorschläge, wie zur Prävention von sexuellen Krankheiten und sexueller Gewalt gearbeitet werden kann. Ebenso zum Sexting …

eine Art sexueller Kommunikation per SMS …

… und zu Selfies, die schnell eine sexualisierte Grenze überschreiten können. Manche Jugendliche gehen mit Selfies und Sexting reflektiert und kritisch um, andere nicht.

Und darüber sollen Lehrer mit ihren Schülern reden?

Schule hat seit 1968 den Auftrag zur Sexualerziehung. Was und wie Pädagogen Sexualität bearbeiten, bleibt ihnen überlassen. Sexualpädagogik sollte das aufgreifen, was die Klasse oder die Jugendgruppe gerade debattiert.

Möglicherweise will nicht jede Lehrerin über Analverkehr reden.

Das muss sie auch nicht. So wie niemand verpflichtet ist, das Buch zu benutzen, muss niemand alles genau so machen, wie es im Buch vorgeschlagen wird. Vielmehr sollte jede Methode der jeweiligen Jugendgruppe angepasst werden.

Wenn das alles so einfach ist, warum gibt es dann Demos wie in Baden-Württemberg?

Das ist eine völlig unnötige Aufregung. Schule hat ganz klar den Auftrag zur Sexualerziehung.

Eine nicht unbedingt verklemmte Kollegin meinte, sie würde ihre Tochter von der Schule nehmen, wenn sie mit Ihrem Buch unterrichtet würde.

Was in den Debatten der vergangenen Wochen häufig unterschlagen wurde: Sexualaufklärung in der Schule geschieht in enger Abstimmung mit den Eltern. Ihre Kollegin wird also in die Sexualerziehung einbezogen und sie muss sich keine Sorgen machen, dass ihre Tochter mit unserem Buch unterrichtet wird. Es ist ja kein Schulbuch.

Wer trägt die größere Verantwortung für die Sexualerziehung: Eltern oder Schule?

Natürlich tragen beide Seiten Verantwortung. Schule hat aber einen staatlichen Auftrag zur Sexualerziehung. In einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung geben 90 Prozent der Jugendlichen an, ihr sexuelles Wissen aus der Schule zu haben. Nur etwa ein Drittel der Zehn- bis Zwölfjährigen spricht mit den Eltern über Sex. Und wenn, dann meist mit der Mutter.

Johannes-Wilhelm Rörig kritisiert, Ihr Buch leiste sexuellem Kindesmissbrauch Vorschub.

Die Kritik ist abwegig. Das Anliegen ist genau das Gegenteil: eine gewalt- und angstfreie Sexualität. Ich selbst forsche zu sexualisierter Gewalt unter Jugendlichen. Sie sollen lernen, Nein zu sagen. Auch dazu gibt es Methoden im Buch.

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7 Kommentare

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  • Die Themen "sexuelle Ausbeutung, Misshandlung, Gewalt" kommen in dem Buch viel zu kurz. Dabei sind sie genauso ein Ausdruck sexueller Vielfalt wie ein fester Bestandteil unserer Sexualkultur. Auch Missbrauchsbetroffene führen ein Sexualleben und viele von ihnen wurden mit einer besonders miesen Form von Sex konfrontiert, bevor sie auch nur im Kitaalter waren. In dem doch recht umfangreichen Buch werden "Missbrauch" gerade mal sechs Seiten gewidmet.

    Ein paar Übungen zum "Nein-Sagen" reichen da bei Weitem nicht. Abgesehen davon, dass Widerstand bei sexuellem Missbrauch auch eine vollkommen falsche, weil gefährliche Reaktion sein kann. Besser ist es, Kinder darin zu stärken, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Die AutorInnen bemühen sich zwar, der Erlebenswelt von Heranwachsenden gerecht zu werden. Aber Aspekte, die sexuelle Minderheiten betreffen werden a) viel zu gesondert behandelt b) und das in ausufernder Weise. Gleichgeschlechtliche, nicht-rollenkonforme oder auch destruktive Impulse und Erfahrungen gehören zur sexuellen Entwicklung dazu. Man braucht kein gesondertes Buch um das zu vermitteln.

     

    Einige sehr fragwürdige Vorschläge für Übungen und Lehreinheiten wurden zwar in die zweite Auflage nicht übernommen. Aber die Richtung beibehalten: Sexualität wird als harmlose Freizeitbeschäftigung dargestellt, etwas wo man lustig rumprobieren kann. So als ob man gemeinsam shoppen geht oder für ein Laientheaterprojekt übt.

     

    Sex hat wie Vieles im Leben verschiedene Facetten. Und genauso viel Negatives, Böses und Dämonisches, wie positive und schöne Seiten. Sex kann wichtig sein, ist aber nur ein Lebensaspekt unter vielen.

     

    Auf dem Weg zum Erwachsenen müssen Kinder damit umgehen lernen. Sonst drohen Schäden.

     

    Angelika Oetken, Berlin-Köpenick, eine von 9 Millionen Erwachsenen in Deutschland, die in ihrer Kindheit und/oder Jugend Opfer schweren sexuellen Missbrauchs wurden

  • Die meisten Lehrer die ich kenne, empfinden den Sexualkundeunterricht als Zumutung.

  • in enger Abstimmung mit den Eltern, sollte so theoretisch sein und ist so in der Schulordnung festgeschrieben, geschieht aber nicht, zudem wird der Sexualunterricht von naja Lehrerinnen in 1h angewickelt, meine Tochter kam heim, mit einer Packung Always, naja, also, ich hatte dann Mühe, dei Macken dieser Unterichtsstunde auszugleichen, die Lehrerin, die ich ansprach, sagte: die Hebamme!! und ich waren doch recht vorsichtig, meine Tochter zB fragte mich: Papa warst du bei meiner Geburt dabei ? Was ich verneinte! Daraufhin meine Tochter: was bist du für ein Feigling!

  • Irgendwie nehmen sich Lehrer immer mehr Kompetenzen heraus.

     

    Ich denke, dass Schulen und Lehrer ausschließlich für die Bildung zuständig sein sollten, die einem zu genormten Abschlüssen führt. Dafür sind sie ausgebildet. Sie haben bei weitem nicht die Kompetenz, um für Schüler der Ansprechpartner im Rahmen vieler privater Sachen zu sein.

    Es gibt, was die Interviewte und die Interviewerin wohl nicht wissen außer Elternhaus und Schule noch andere wichtige Stellen der Sozialisation.

     

    Wenn die für Heranwachsende keine Möglichkeit mehr darstellen, ihre Neugier zu befriedigen und Antworten zu geben, dann sollte untersucht werden, woran das liegt.

    • @Age Krüger:

      Lehrer nehmen sich nicht mehr Kompetenzen heraus sondern bekommen immer mehr Erziehungsarbeit aufgedrückt.

       

      Dem Rest ihres Beitrags kann ich zustimmen, auch wenn ich vielen Lehrern die Kompetenz zuspreche, auch in privaten Sachen ein guter Ansprechpartner zu sein.

  • Nun ja. Vielfalt existiert, das ist schon richtig. Dass allerdings alles, was existiert, "deswegen [...] auch in der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit [..] berücksichtig[t]" wird, kann man guten Gewissens bisher nicht behaupten. Mit vielen Defiziten lebt das Bildungswesen ganz gern und ziemlich gut, scheint mir. Die Folgen dieser Ignoranz sind der (medialen) Öffentlichkeit bisher weitgehend schnuppe.