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Kommentar 1. Mai in BerlinProtestieren ist nicht grillen

Gereon Asmuth
Kommentar von Gereon Asmuth

Ist die linksradikale Mai-Demo zu einem sinnentleerten Gewaltritual verkommen? Von wegen! Der politische Inhalt der Proteste ist kaum zu übersehen.

Da hat tatsächlich nochmal was gebrannt: Kreuzberger Mai-Demo 2012. Bild: dpa

R itual, nichts als Ritual. Ein sinnentleertes Ritual, bei dem sich testosterongesteuerte Jungmänner in schwarzer Uniform mit denen in blau kloppen. So lautet, gern auch in linksbequemen Kreisen, die sich selbst am 1. Mai allenfalls zum Grillen hinausbewegen, die Standardkritik an der Revolutionären 18-Uhr-Demo, die sich wie jedes Jahr auch am Freitag wieder pünktlich eine bis anderthalb Stunden nach dem offiziellen Beginn durch Berlin-Kreuzberg bewegen wird. Also: Same procedure as every year?

Ja, stimmt, das ist schon sehr ritualisiert. Aber neu ist das nicht – im Gegenteil. Der linksradikale Mai-Protest ist keineswegs zum Ritual verkommen, wie gern behauptet wird. Er war es von Anfang an. Die allererste Revolutionäre Mai-Demo in Kreuzberg gab es 1988 – als Erinnerung, Neuinszenierung, Wiederholung der Ausschreitung im Jahr zuvor. Denn die legendären Krawalle 1987, bei denen – so schwärmen noch heute einige Veteranen – Kreuzberg stundenlang „von den Bullen“ befreit wurde, wurden keineswegs durch irgendeine Demo, sondern durch ein Straßenfest ausgelöst, das von der Polizei attackiert wurde.

Nun kann und darf man Rituale per se doof finden, so wie viele auch Weihnachten nicht mögen, selbst wenn am Ende dann doch fast alle wieder Geschenke kaufen, wegen der Kinder, und weil es – trotz aller Streits – dann doch mal ganz nett sein kann, sich wenigstens einmal im Jahr mit der Familie zu treffen.

Ein bisschen ist das auch am 1. Mai in Kreuzberg so. Da kommen alle zusammen, denen eine gewisse linke Radikalität nicht ganz fremd ist – zur Selbstvergewisserung nach innen. Vor allem aber wollen sie zeigen, dass es keineswegs nur ein paar Hanseln sind, denen politische Positionen außerhalb der gemeinhin von den Parteien vertretenen Positionen ein Anliegen sind.

Randvoll mit Inhalt

Daher trifft erst recht der Vorwurf nicht, die Revoluzzerdemo sei sinnentleert. Im Gegenteil: gegen Gentrifizierung und kapitalistische Ausbeutung und für Flüchtlings-, ach was, für Menschenrechte wird hier mit einer Radikalität eingetreten, die man im einzelnen nicht teilen muss. Aber den politischen Inhalt der Proteste zu übersehen, kann eigentlich nur denen gelingen, die seit Jahren ganz fest die Augen verschließen.

Mit dem Übersehenwerden müssen aber auch andere Demonstranten leben – oder könnte jemand auf Anhieb sagen, worum es gerade genau beim anderen großen 1.-Mai-Ritual, dem DGB-Aufmarsch geht? Äh …, 35-Stunden-Woche? Ach nee, das war ja in den 80ern. Mindestlohn? Gibt es schon. Also irgendwas mit Arbeitnehmerechten? Ja, irgendsowas. „Die Arbeit der Zukunft gestalten wir!“, lautet dieses Jahr der DGB-Slogan.

Das ist ungefähr so differenziert wie das „Holen wir uns die Stadt zurück!“ der Radikalen Linken, die in Kreuzberg demonstriert. Plattparolenhaft. Aber so sind Demonstrationen doch: demonstrativ. Diskursiv ausgelotete Gesellschaftsanalysen findet man andernorts.

Weniger Krawall, mehr Demonstranten

Bleibt die Frage nach der Gewalt, der Randale. Oder, um auch hier die plattparolenhafte Kritik zu zitieren: das sinnentleerte Gewaltritual (wobei man sich, aber das nur am Rande, überlegen muss, was denn dann das Gegenteil davon, also ein sinnvolles Gewaltritual, sein sollte?). Ja, diese Gewalt gibt es. Ja, sie ist ein Problem. Und ja, es gibt unzweifelhaft auch Krawalltouristen, die vor allem nach Kreuzberg kommen, um aktiv oder passiv Teil des Events zu werden.

Dennoch lohnt auch hier ein genauer Blick. Die großen Schlachten wurden schon vor Jahren geschlagen. Sie sind Geschichte. Das was in den letzten Jahren in den Kreuzberger Nächten noch passierte, war allenfalls ein Abklatsch davon, kaum mehr als eine größere Wirtshausschlägerei, was kein Wunder ist, bei der Massenparty des MyFestes, das gleich nebenan läuft.

Mit der Revolutionären Mai-Demo direkt hatten die Ausschreitungen immer weniger zu tun. Je unkrawalliger der Protestzug war, desto mehr Menschen kamen. Im vergangenen Jahr gab es mit rund 20.000 Menschen gar einen neuen Teilnehmerrekord.

Wenn also am 1. Mai etwas hinterfragt werden muss, dann die ewig gleiche Kritik an der angeblich unpolitischen Demo. Denn die ist nichts anderes als ein sinnentleerendes Ritual.

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Gereon Asmuth
Ressortleiter taz-Regie
Leiter des Regie-Ressorts, das die zentrale Planung der taz-Themen für Online und Print koordiniert. Seit 1995 bei der taz als Autor, CvD und ab 2005 Leiter der Berlin-Redaktion. 2012 bis 2019 Leiter der taz.eins-Redaktion, die die ersten fünf Seiten der gedruckten taz produziert. Hat in Bochum, Berlin und Barcelona Wirtschaft, Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation und ein wenig Kunst studiert. Mehr unter gereonasmuth.de. Twitter: @gereonas Mastodon: @gereonas@social.anoxinon.de Foto: Anke Phoebe Peters
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5 Kommentare

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  • Wow! Erstaunlich, dass mensch einem Erwachsenen mit Publikationshintergrund noch erklären muss, wo der Unterschied zwischen sinnentleerten Gewaltritualen und legitimer Gewalt zur Selbstverteidigung liegt.

     

    Sinnentleert ist Gewalt, wenn es demokratische Wege gibt politische Forderungen durchzusetzen. Dann setzt sich eine gewaltbereite Minderneit über die Rechte und die körperliche Unversertheit anderer Menschen hinweg und entscheidet sich für Willkürherrschaft. Politische Gewalt in einer Demokratie ist nichts anderes als die Forderung nach dem Recht des Stärkeren!

     

    Legitim ist Gewalt, wenn überhaupt, dann in Willkürsystemen in denen Wahlen gefälscht, Meinungen verboten, Menschen grundlos verhaftet werden etc. Diesen Zustand können wir uns für Kreuzberg aber nur mit sehr viel Alk herbeireden.

     

    Daher: Gewalttäter ausgrenzen!

  • Die steigenden Teilnehmerzahlen der Demo und das Verblassen der Randale zu Randritualen mit der Bedeutung von Wirtshausschlägereien sind Symptome, die alle Menschen, die noch Ideale jenseits der systemkonformen Besitzstandswahrung haben, positiv stimmen sollten. Dazu passt ja auch, dass die schärfste Kritik am 1. Mai von eben denjenigen kommt, die den Mief ihrer Provinznester, vor dem sie einst nach Kreuzberg oder Altona geflohen sind, längst im Huckepack mitgebracht und erfolgreich etabliert haben.

     

    Ihre infantile Denke "Was ich nicht haben oder erreichen kann, ist doof!" haben sie dagegen noch nicht abgelegt. Da sind andere weiter, die nämlich genau wissen, dass die Gewaltrituale teilweise selbstprovoziert sind, teilweise ein Problem von Krawalltouristen und frustrierten Migrantenjugendlichen mit Testosteronüberschuss sind, die jedoch gerne wüssten, was die 30.000 friedlichen Teilnemer_innen der Demo so alles im Hinterköpfchen ausbrüten, denn Brutpflege wie bei den Gentrifizierten ist es offensichtlich nicht.

  • "Nun kann und darf man Rituale per se doof finden" - Kann man. Dumme Gewaltscheiße IST DOOF.

  • Der Autor hat Recht mit der Aussage, dass es aus Teilnehmersicht vermutlich 'einen Sinn' gibt. Nur sollte er sich seine klammheimliche, nahezu väterliche Freude über noch vorhandene 'Radikalität' zurückhalten.

    Es schwingt -wie immer- die absurde Überzeugung mit, dass es Gewalt höherer moralischer Ordnung gibt. Dass diese Radikalität etwas Gutes bezweckt. Wollen Sie uns sagen wie der Diskurs aussähe, wenn die Antifa sich ein komplettes Stadtviertel holt? Ich kann mir das lebhaft vorstellen. Mit 'gut' hat das aber nichts zu tun. Und schmunzeln muss ich auch: natürlich war es die Polizei, die quasi alles losgetreten hat 1987. Solch monokausale Erklärungsansätze findet man sonst nur...hmm...Montag Abend in Dresden und Leipzig. Dumm.

  • Da muss ich widersprechen.

     

    Der Autor verharmlost das gewalttätige Geschehen am 1. Mai. Der Vergleich mit Weihnachten ist sinnentleert und deplaziert. Dass der DGB am 1. Mai nur ausreichend Grund sieht um sich selbst zu feiern, rechtfertigt auch nichts von dem geschriebenen.

     

    Was wollen die Antifaschisten? Ein neues, selbstverwaltetes Kulturzentrum. Am besten groß.

     

    Das hat nichts mit politischen Forderungen zu tun und auch nichts mit Demonstrationsfreiheit. Art. 8 GG schließt Gewalt aus.

     

    Letztes Jahr wurde ein (nicht "bonziges") Auto einer alleinerziehenden Kollegin weit von der eigentlichen Route von Antifaschisten angezündet. Sie wurden zwar gefasst, haben aber kein Geld. Der Streit mit der Versicherung dauert an. Ein Beispiel von vielen, was zeigt wie weit von der Realität Sie und ihr Beitrag eigentlich sind.