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Exodus nach Mailand

MIGRATION Früher arbeiteten viele Ägypter in den Golfstaaten. Seit Italien attraktiv geworden ist, kommen sie mit ganz neuen Ideen zurück

Mit glänzenden Augen hört der 16-jährige Hamada Saad zu. Sonys Geschichten schrecken ihn nicht. „Sobald ich die Möglichkeit habe auszureisen, werde ich das tun“, sagt er

AUS EL-FAYOUM KARIM EL-GAWHARY

Zwei junge kichernde Mädchen reiten in leuchtend bunten Kleidern auf Eseln zwischen Palmen. Einige Fellachen, wie die ägyptischen Bauern genannt werden, arbeiten auf einem Zuckerrohrfeld. Im Hintergrund knattert eine Dieselpumpe, die das kostbare Nass vom Bewässerungskanal auf die Felder leitet. Verglichen mit dem grau-gelben Wüstensand rund um die ägyptische Oase El-Fayoum, hat das Grün eine besonders intensive Wirkung. Europa ist weit weg – und wirkt plötzlich so nah.

„Alle Jugendlichen hier wandern nach Europa aus. Da wäre ich schön blöd, wenn ich meine Söhne nicht reisen lassen würde“, sagt der Bauer Saad Aqad, der für die Gäste eine Bastmatte ausgelegt hat und Tee serviert. Er hat vier Söhne, die alle in Mailand arbeiten. Der Älteste, Nasr, sitzt neben ihm. Er arbeitet in Italien auf dem Bau und ist gerade auf Heimaturlaub, um dem Vater bei der Landarbeit unter die Arme zu greifen. Das tut er auch mit dem Geld, das er jeden Monat nach Hause schickt. Der am Rand des Feldes geparkte neue Toyota und das neue Haus zeugen von dem in Italien gewonnenen Status der Familie. „Wenn wir Jugendliche nicht nach Europa auswandern könnten, würden wir uns hier gegenseitig auffressen“, erklärt Nasr.

Tatoun ist eine Kleinstadt in der Oase El-Fayoum, einer der größten des Landes, und es gibt kaum eine Familie dort, deren Söhne nicht in Italien ihr Glück versuchen. Von den 40.000 Einwohnern Tatouns, schätzt die ägyptische Menschenrechtsorganisation EOHR, leben 6.000 inzwischen in Italien. „Für viele ist es die einzige Möglichkeit, ökonomisch und sozial aufzusteigen“, sagt Hafez Abu Saader, EOHR-Bürochef in Kairo. Nach landesweiten Schätzungen leben fast eine halbe Million illegale ägyptische Einwanderer in Europa, 90.000 davon in Italien.

Tatouns Hauptstraße heißt deswegen auch „Mailänderstraße“, obwohl es mit den ramponierten chinesischen Motorrädern und den gemächlich dahinkutschierenden Eselskarren auf der nicht asphaltierten Straße doch sehr ägyptisch zugeht. Neben unverputzten und niedrigen Häusern ragen einige Hochhäuser in den Oasenhimmel, gebaut von dem Geld, das aus Italien hierher gelangt ist. Man erkennt sofort, wer es in Europa geschafft hat. Die nagelneuen Villen im lombardischen Stil am Rande des Dorfes wirken wie Fremdkörper hier, besonders mit ihren spitzen Dächern und gewölbten Ziegeln, obwohl es in Fayoum so gut wie nie regnet.

Langsame Zersetzung

Im Dorf spricht Bäcker Ahmad von einer Zweiklassengesellschaft in Tatoun: den Ausgewanderten, die Geld schicken, und den Daheimgebliebenen. „Wenn man als junger Mann heiraten will, dann fordern die Eltern der Braut ein hohes Brautgeld, das sich kaum einer leisten kann. Nur mit einem Aufenthaltsstempel für Italien im Pass bist du ein guter Bräutigam“, klagt er.

Italien ist für alle das große Lebensziel. Und das hat das Leben in Tatoun selbst verändert. In den 1990er-Jahren reisten viele zum Arbeiten in die arabischen Golfstaaten und brachten nicht nur Geld, sondern auch die dort vorherrschenden islamisch-konservativen Wertvorstellungen mit nach Hause. El-Fayoum entwickelte sich zu einer Hochburg der Islamisten. Heute kommen die jungen Leute mit ganz anderen Ideen aus Italien zurück, erklärt Hafez Abu Saada. Noch sei es zu früh zu sehen, wie sich das auf die Gesellschaft El-Fayoums auswirke. „Viele bringen aus Europa ein neues Denken mit“, meint Bäcker Ahmad. „Manche unserer jungen Frauen, die ihren Männern nachgezogen sind, kommen ohne Kopftuch zurück oder nehmen es ab, sobald sie die Oase verlassen.“

Sony ist vorbeigekommen, um seine turbulente Migrationsgeschichte loszuwerden. Diesen Namen verdankt er seiner Mutter, weil sie sich für ihr ägyptisches Bauernhaus immer ein Fernsehgerät der Marke Sony wünschte. Er selbst ist viermal illegal nach Europa gereist – und dreimal gescheitert. Beim ersten Mal ist er auf seinem abenteuerlichen Weg nach Malta fast ertrunken, weil das Boot von der italienischen Küstenwache aufgebracht wurde. Ein anderes Mal versuchte er es im Winter über die menschenverlassene Landgrenze zwischen Syrien und dem Libanon. Magdi, einer seiner besten Freunde, kam dabei um. „Wir hatten keine Ahnung, wie kalt es auf den schneebedeckten Bergen zwischen den beiden Ländern sein kann“, erzählt er. Magdi kroch irgendwann nur noch über den schneeverwehten Bergpfad, blieb dann ganz liegen. Die Schmuggler drängten die Gruppe weiterzugehen. Sony blieb bei seinem Freund zurück und sah zu, wie er starb. Später sei einer der Schmuggler noch einmal vorbeigekommen. „Sie können es sich nicht leisten, Leichen offen liegenzulassen.“

Er selbst wurde zu den anderen in ein Haus in Junieh an der libanesischen Küste gebracht, wo er, wie es im hiesigen Schmugglerjargon heißt, mit anderen Europa-Aspiranten für mehrere Tage „gelagert“ wurde. Das sei immer die schlimmste Zeit, erinnert sich Sony. Die Menschen werden mit nur dem Allernötigsten in abgelegenen Häusern für mehrere Tage weggesperrt, bis die Vorkehrungen mit den Besitzern der Fischerboote für die Weiterfahrt, diesmal nach Zypern, getroffen sind. Sonys Gruppe wurde erneut entdeckt, diesmal von der libanesischen Küstenwache. Der Ägypter wurde einen Monat wegen illegalem Grenzübertritt eingesperrt, bevor er wieder in seine Heimat abgeschoben wurde.

Letztlich hat es dann doch via Malta und Sizilien geklappt. In Mailand verdiente Sony richtig gutes Geld. Er hat sich auf die Mafia eingelassen, möchte aber nicht darüber reden. Weil die italienischen Behörden nach ihm fahndeten, ergriff er die Flucht zurück in die Oase. Etwas von seinem Reichtum scheint er gerettet zu haben, wie der der monströse Geländewagen zeigt, mit dem er vorgefahren kam.

„Die Auswanderung ist wie eine Krankheit, die die Oase befallen hat“, reflektiert Sony heute. Es gebe in dieser verarmten Gegend nur drei Wahlmöglichkeiten: andere bestehlen, sich umbringen – oder nach Europa durchschlagen.

Warten auf den Anruf

Mit glänzenden Augen hört der 16-jährige Schüler Hamada Saad zu. Sonys Geschichten schrecken ihn nicht. „Sobald ich die Möglichkeit habe auszureisen, werde ich das tun, ob legal oder illegal und egal wie riskant.“ In der Oase könne man kein Geld verdienen, werde nur gedemütigt und habe keinerlei Rechte, fasst er seine Perspektive zusammen. Die Arbeitslosenquote in Ägypten betrug im Herbst letzten Jahres 9,42 Prozent.

„Auszureisen ist für die Jugendlichen in der Oase das einzige Erfolgsrezept“, resümiert der Bäcker Ahmad. Dabei würden alle immer nur an diejenigen denken, die es geschafft haben. „Von den Gescheiterten ist nie die Rede“, sagt er. Manche schlafen in Italien auf den Parkbänken und schicken kein Geld zurück. Die Familie bleibt auf ihren Schulden sitzen, die sie gemacht haben, um die Menschenschmuggler zu bezahlen. Der Deal ist immer der gleiche: Kostenpunkt umgerechnet ungefähr 3.000 bis 4.000 Euro, die Hälfte ist vor der Abreise zu bezahlen, die andere nach dem ersten Anruf aus Italien.

Manchmal bleibt dieser Anruf aus. Dann weiß die Familie, dass ihr Sohn unterwegs umgekommen ist. Ahmad erzählt von einer Bekannten, die „verheiratet und doch nicht verheiratet“ ist. Ein halbes Jahr nach der Hochzeit hatte sich ihr Ehemann per Boot auf den Weg nach Italien gemacht. Er hat nie angerufen und ist nie zurückgekommen. Ahmad berichtet noch von der Mutter, die ihren Sohn nicht ziehen lassen wollte, bevor er geheiratet und ihr einen Enkel geschenkt habe. Zuvor hatte sie bereits zwei Söhne im Meer verloren.

Die Menschenrechtsorganisation EOHR fordert ein Gesetz, das gegen die Menschenschmuggler vorgeht, weil sie bewusst mit seeuntüchtigen Booten Leib und Leben anderer aufs Spiel setzen. „Das gehört bestraft“, verlangt Abu Saada. Laut aktueller Rechtslage könne gegen sie nur vorgegangen werden, weil sie für ihre „Vermittlerfirma“ über keine Lizenz verfügen. Darauf steht lediglich eine Geldstrafe und ohnehin sei alles ohne unterschriebene Papiere schwer zu beweisen. Menschenschmuggelgeschäfte werden per Handschlag abgeschlossen. Das Hauptproblem, sagt Abu Saada, sei ohnehin kein rechtliches, sondern die Aussichtslosigkeit für Jugendliche in Ägypten.

Vor kurzem war ganz Tatoun zu einer Trauerfeier auf den Beinen. Ein Dutzend Jugendliche waren auf einen Schlag ertrunken, nachdem ihr Boot auf dem Weg ins gelobte Europa im Mittelmeer gekentert war. Ein Schicksalsschlag, durch den El-Fayoum und Tatoun für einen Tag sogar in die nationalen Schlagzeilen geraten sind. Die Beerdigung war gerade vorbei, da ging einer der Väter, der soeben zwei seiner Söhne verloren hatte, zu dem Menschenschmuggler und vereinbarte den nächsten Deal: Er bezahlte bar, damit sein dritter Sohn auf die Reise gehen kann.

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