: Schrottmeiler vor der Haustür
ENERGIE In den Druckbehältern der grenznahen belgischen AKW Doel und Tihange klaffen Tausende zentimetertiefe Risse. Atomkraftgegner werfen der Bundesregierung vor, die Gefahr zu verharmlosen
DIETER MAJER, ATOMEXPERTE
VON ANDREAS WYPUTTA
BOCHUM taz | Schon von außen wirken die Blöcke des belgischen Atomkraftwerks Tihange bedrohlich. Versteckt in den Hügeln der Wallonie stehen im Maastal drei betonierte Röhren. Ihnen ist anzusehen, dass sie schon seit 1975 in Betrieb sind – Dreck und Niederschlag haben deutliche Altersspuren hinterlassen. Der Eindruck trügt nicht: Das Kraftwerk ist so gefährlich, dass Block 2 im August 2012 heruntergefahren werden musste. Dessen 20 Zentimeter dicker Reaktordruckbehälter wird von rund 2.000 Rissen durchfurcht – mit einer Größe von bis zu 2,4 Zentimetern.
Im baugleichen Reaktor 3 des AKW Doel bei Antwerpen wurden sogar 8.000 Risse gefunden. Im Worst Case könnte so der Druckbehälter leichter bersten. Nur 70 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt stehen zwei Schrottmeiler. So sehen es Atomkraftgegner; sie werfen der Bundesregierung vor, die Gefahren zu verharmlosen.
Weder Bundesumweltminister Peter Altmaier (CDU) noch das Bundesamt für Strahlenschutz informiere in akzeptabler Form über die Risiken. „Man findet nirgendwo etwas“, klagt die Atomexpertin der grünen Bundestagsfraktion, Sylvia Kotting-Uhl. „Dabei sitzt die Bundesregierung auf einem Berg deutschsprachiger Informationen.“ Das Ministerium verweise lediglich auf eine zwölfseitige Stellungnahme der Reaktorsicherheitskommission. Geschrieben sei die „von Fachleuten für Fachleute“, kritisiert Kotting-Uhl – und damit für besorgte BürgerInnen kaum verständlich. Dabei sind deren Sorgen offenbar berechtigt: „Im schlimmsten Fall könnten die Druckbehälter ihre Integrität verlieren, also bersten“, sagt Dieter Majer. Der Ingenieur hat über 30 Jahre in der Atomaufsicht gearbeitet, war bis zu seiner Pensionierung Leiter der Abteilung für die Sicherheit atomtechnischer Einrichtungen im Umweltministerium. Ein defekter Behälter führe zur „Kernschmelze und folgenden Dampf- und Wasserstoffexplosionen“. Es drohten „erhebliche Zerstörungen“ der den Behälter umgebenden Hülle und ein „Durchschmelzen des Fundaments“ nach unten. Dann gebe „es keine Barriere mehr, die Radioaktivität zurückhält“, sagt Majer.
In der grenznahen Region um Aachen wächst deshalb der Widerstand gegen die Meiler. „Der Reaktor ist nicht einmal 70 Kilometer entfernt“, sagt Jörg Schellenberg von der Initiative Stop Tihange. „Ein schwerer Unfall würde uns alle treffen.“ Die Betreiberfirma Electrabel will die Meiler trotzdem wieder anfahren – offiziell vom Netz ist Tihange nur noch bis zum 14. Mai, Doel bis zum 1. Juni.
Die Grüne Kotting-Uhl fordert deshalb, Umweltminister Altmaier müsse von der belgischen Regierung „größtmögliche Sicherheit“ einfordern. Die Bundesrepublik müsse mit den Risiken im Nachbarland offen umgehen. Kotting-Uhl fürchtet, dass ihre Forderungen ignoriert werden dürften: „Schlussfolgerungen und Empfehlungen im Hinblick auf den sicheren Betrieb der belgischen Kernkraftwerke“, schreibt das Bundesumweltministerium in einer Antwort auf eine kleine Anfrage der Abgeordneten, „sind nicht Aufgabe der Bundesregierung“.
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