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Der Letzte und Erste

Woitzik ist Vorsitzender der ältesten Partei DeutschlandsBald würden bekannte Ex-CDUler dem Zentrum beitreten, sagt Woitzik

AUS DORMAGENMATTHIAS LOHRE

Die Geschichte von Gerhard Woitzik wäre schnell erzählt, ginge es nur um den 78-jährigen Chef einer obskuren Splitterpartei. In wenigen Sätzen ließe sich schreiben, dass Woitziks Zentrumspartei gerade einmal um die 600 Mitglieder hat und nur auffällt, wenn sie gegen die Vorziehung der Bundestagswahl prozessiert – und unterliegt. Bald wäre das Urteil gefasst, dass der ältere Herr mit dem vollen, weißen Haar und der kräftigen Stimme ein Paradiesvogel sein müsse und die „älteste Partei Deutschlands“ seine private Marotte. Aber so einfach ist es nicht. Bei Gerhard Woitziks Geschichte geht es nämlich auch um die Frage, wohin sich Wählerinnen und Wähler wenden, denen die großen Parteien fremd geworden sind. Was tut etwa ein alter CDU-Stammwähler, dem die Union zu unchristlich oder zu unsozial geworden ist?

Vielleicht geht er zum Zentrum – aber dazu muss er erst einmal einen unsichtbaren Graben überwinden, der mitten durch das backsteinerne Rathaus von Dormagen verläuft: entlang den breiten Fluren im ersten Stock, zwischen den Büros von CDU und Zentrumspartei. „Irgendwo da hinten“ sei Gerhard Woitzik zu finden, sagt der CDU-Mann, als er dem Besucher mit einem Kopfnicken mürrisch den Weg weist. „Irgendwo da hinten“ ist zehn Meter weiter. Woitzik arbeitet hier seit 30 Jahren. Er war immer schon da, er ist Vorsitzender der „Deutschen Zentrumspartei, älteste Partei Deutschlands – gegründet 1870“, und er glaubt an ihre große Zukunft.

„Das mit der ‚ältesten Partei‘ habe ich vor ein paar Jahren hinzugesetzt“, sagt Woitzik in seinem Büro, „im Einvernehmen mit dem Bundeswahlleiter. Man braucht heute ja etwas, das uns auf dem Wahlzettel von den vielen kleinen Parteien unterscheidet.“ In seiner kräftigen Stimme schwingt sein Leben mit. Unter dem rheinischen Singsang, den er sich in 60 Jahren angewöhnt hat, steckt bis heute ein rollendes, tief im Hals sitzendes R. Das stammt aus der alten Heimat, dem katholischen Niederschlesien. Dazwischen liegen Krieg, Gefangenschaft und 60 Jahre Arbeit. In der Kommunalverwaltung, aber immerhin.

Woitziks trägt einen dunkelgrauen Anzug, seine Augen sind hell und blau, die Wangen fast faltenfrei und glatt rasiert. Er sieht deutlich jünger aus als 78. Woitzik ist die Verkörperung des deutschen Kleinstadt-Honoratiorentums. Es ist alles da: der feste Händedruck, das durchgedrückte Kreuz und der Stolz, dass das eigene Wort Gewicht hat im Ort. Der bislang letzte Vorsitzende einer 136 Jahre alten Partei, seit insgesamt 21 Jahren im Amt. Gerhard Woitzik sagt: „Ich erkenne mich in Ludwig Windthorst wieder.“ Dies ist der berühmtesten Vertreter der Partei – er starb 1891. Lange sind sie her, die Glanzzeiten.

Die Jahre im Kaiserreich etwa, als sich die Partei als Stimme der Katholiken im „Kulturkampf“ gegen Bismarck behauptete. Zwischen 1919 und 1933 holte die katholische Partei bei Reichstagswahlen konstant mehr als 11 Prozent der Stimmen. Und sie stellte immerhin fünf Reichskanzler der Weimarer Republik. Einer war Franz von Papen, später Steigbügelhalter Hitlers. Das Zentrum stimmte dem Ermächtigungsgesetz zu, dem Grundstein der NS-Diktatur.

Nach dem Zweiten Weltkrieg sogen CDU und CSU konservative WählerInnen auf. Die beiden Parteien gaben sich konfessionsübergreifend und versöhnend. Das passte besser in die neue Republik als das Zentrum mit seinen gusseisern-katholischen Grundsätzen fürs rechtschaffene Christenleben. Auch daher speist sich der tiefe Groll zwischen Union und Zentrum.

Der unsichtbare Graben im Rathausflur ist vor einem Jahr noch tiefer geworden. Damals wurde der Verwaltungsangestellte Woitzik erneut stellvertretender Bürgermeister der rheinischen Stadt. Eine bunte Koalition kleiner Fraktionen und Einzelmitglieder hatte er dafür hinter sich geschart, zum zweiten Mal nach seiner ersten Amtszeit von 1994 bis 1999. Der Unions-Kollege hatte das Nachsehen.

„Die CDU hat seit langem nicht mehr ihr C im Namen verdient“, sagt Woitzik. Sein Blick richtet sich dabei in die Ferne, es geht jetzt um seine Grundsätze. Zu denen gehört auch die Ablehnung von Abtreibungen. Woitzik, der zweifache Vater, nennt das Lebensschutz. „Als Pro Familia in Dormagen Schwangerenberatung anbot, habe ich das nicht mit meinen Grundsätzen vereinen können. Da darf man keine falschen Kompromisse machen.“ Bei Schwangerschaften nach Vergewaltigungen, nun ja, darüber ließe sich reden. Die Union habe da „herumlaviert“. Genau so bei der Homoehe, bei der Präimplantationsdiagnostik und dem Klonen von Menschen. In seinen Augen ist die CDU voller Zeitgeist-Konservativer und er lediglich konsequent.

Als sich vor fast 20 Jahren der fundamentalistische Flügel des Zentrums abspaltete und die Partei „Christliche Mitte“ gründete, blieb Gerhard Woitzik. Er will handfeste Politik machen, und sei es in einem der letzten Reservate der Partei, im Rat einer 60.000-Einwohner-Stadt. Seine Moralvorstellungen sind nicht weit weg von denen vieler Menschen, die konservativ empfinden – nur äußert der stellvertretende Bürgermeister von Dormagen seine Ansichten unverhohlen. Gerhard Woitzik taktiert nicht, das kann er gar nicht, er kämpft mit offenem Visier. Dafür nimmt er seit Jahrzehnten fragende und amüsierte Blicke in Kauf. Blicke, die sagen: Was ist das Zentrum schon mehr als der Schatten seiner selbst? Seit mehr als einem Jahrzehnt liegt sie im Bund bei 0,01 Prozent. Das Zentrum liegt im Wachkoma. Die Geschichte der Bundesrepublik ist an ihren erstarrten Augen vorübergezogen, ohne dass sich etwas in ihnen geregt hat.

Wer noch lebt, ist Gerhard Woitzik. Er ist die Zentrumspartei. „Ich“, sagt er, „habe sie über Jahrzehnte am Leben erhalten.“ Fast die Hälfte der rund 600 Mitglieder leben in Dormagen und Umgebung. Denn wer ihm für einen guten Rat oder Beistand gegenüber einer Behörde dankt, dem erzählt Woitzik schon mal, dass, nun ja, seine Partei ja eine Basis brauche. Und er hat vielen geholfen. Wem und wie? Woitzik steht aus seinem Stuhl auf und glättet sich die Anzughose. „Das gucken wir uns am besten selbst an.“

Woitzik bittet in sein Auto und fährt zum Dormagener Stadtteil Nievenheim. Es ist ein Wohngebiet mit 130 Eigenheimen und 80 Eigentums- und Mietwohnungen auf acht Hektar. Mit der linken Hand lenkt Woitzik seinen Wagen, mit der rechten zeigt er auf Häuser, wie sie in jeder westdeutschen Kleinstadt stehen. Nicht hübsch, nicht hässlich und vor allem unauffällig. „Viele im Stadtrat erklärten mich damals für verrückt. Dabei ist die Idee so einfach: Junge Familien können sich hier durch vergünstigte Grundstückspreise und Eigenleistungen ein Eigenheim leisten.“ Lokale Erfolge eines Stadtrates. Nichts, was über den engen Rahmen einer Kreisstadt hinausweist. Doch jetzt, mit 78 Jahren, glaubt Woitzik an eine neue Blüte seiner Partei.

Von dieser neuen Blüte erzählt der Vorsitzende in der Zentrale der ältesten Partei Deutschlands. Es ist Woitziks Einfamilienhaus. Im großen Wohnzimmer steht ein grünes Sofa, das dem aus Loriots Fernsehsendungen sehr ähnlich sieht. Darauf setzt sich der Parteichef, vor sich eine Tasse Tee, und zählt auf: In Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz, Hessen, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt gebe es wieder Landesverbände, und in Nordrhein-Westfalen gleich zwei. Bald gebe es in allen 16 Bundesländern wieder seine Partei. Dann legt er seine großen Hände flach auf den vor sich stehenden Tisch und sagt: „Ich kann noch keine Namen nennen, deshalb nur so viel: Im Januar werden einige bundesweit bekannte Ex-CDUler ihre Mitgliedschaft im Zentrum bekannt geben. Was die schwarz-rote Koalition in Berlin plant, wollen viele nicht mehr mittragen.“ Ist das so etwas wie eine Linkspartei auf der Rechten? Ein Protest gegen den Abbau sozialer Sicherungen, die die Bundesrepublik in mehr als fünfzig Jahren aufgebaut hat? Immerhin will das Zentrum ein Erziehungsgeld für den Elternteil, der sich zu Hause ums Kind kümmert. Gerhard Woitzik schaut wieder kurz in die Ferne und sagt mit einem Kopfnicken: „Unter dem Dach der Zentrumspartei wollen sich die bürgerlich-christlichen Kräfte in Deutschland sammeln, denen die CDU-Politik ganz und gar nicht gefällt.“ Er fühlt sich im Aufwind. Schon vor zwei Jahren trat die evangelikal ausgerichtete Christliche Partei Deutschlands (CPD) geschlossen dem Zentrum bei. Für ihn mehr als der Gewinn einer Hand voll Mitglieder, sondern ein Beweis. Der Trend wende sich ab von den moralischen Relativisten und hin zu denen, die immer schon für ihre Überzeugungen eingestanden haben. „Gerade die Jugend will wieder werteorientiert sein.“ Vor wenigen Wochen wurde der Landesverband Sachsen-Anhalt gegründet – von einem 19-Jährigen.

Fast behutsam liest er ein Schreiben der „Allianz der Mitte“ (AdM) an ihn vor: Die 1.000-köpfige Partei, hervorgegangen aus der „Rentnerinitiative“ und deren Wut über soziale Kürzungen, wolle dem Zentrum beitreten. „Tja, und wenn das passiert“, sagt Woitzik über seine Brille hinweg, „wird das auch auf Bundesebene spürbar sein.“ In diesem Moment weiß er noch nicht, dass der AdM-Sprecher Ralf Rambach wenig später sagen wird: „Mit dem Programm des Zentrums, insbesondere seiner christlichen Bindung, können wir nicht so viel anfangen.“ Sie werden nicht zusammen kämpfen. Die AdM ist bisher fast nur in Bayern und Baden-Württemberg zu finden – eine Splitterpartei auch sie.

Gerhard Woitzik erschüttert das nicht. Der Letzte wird der Erste sein, daran glaubt er. Seine Standhaftigkeit wird jetzt endlich belohnt. Er ist sich sicher: Er ist so lange stehen geblieben, bis er wieder ganz vorne ist. „Tue recht und scheue niemand“, sagt er mit rollendem R, ist sein Lebensmotto. Dazu kann er stehen. Mit durchgedrücktem Rücken.

Die Geschichte von Gerhard Woitzik ist schnell erzählt, kennt man das wenig bekannte Ende des Spruchs vom „rechten Tun“. Der Vers wird einem Pfarrer im 17. Jahrhundert zugeschrieben. Am Schluss heißt es: „… denn was kann dir der Staub tun.“

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