DIETER BAUMANN über LAUFEN
: Die Waffen der Frauen

Die „Emmas“ wollten nicht mit mir laufen. Und haben mir Paris geklaut

Wenn sie in den nächsten Wochen nach Tübingen kommen und Laufschuhe tragen, kann es durchaus vorkommen, dass sie von Menschen angesprochen werden, die sie nach ihrer Bestzeit über 1.000 Meter fragen. Kaum sind die vielen Silvesterläufe vorbei, lechzt das Laufvolk nach neuen Herausforderungen.

Ein echter läuferischer Leckerbissen ist in Tübingen die 100-Kilometer-Staffel. Zwar findet dieser Wettbewerb erst im Sommer statt, doch jedes Team besteht aus zehn Mann, und das Zusammenstellen der Teams beginnt sehr früh. Jeder fragt jeden nach seinen läuferischen Qualitäten. Die Frage nach der Bestzeit über 1.000 Meter ist deshalb so interessant, weil das Rennen auf einer 1.000-Meter-Runde gelaufen wird. Zwei Teilnehmer einer Mannschaft müssen dabei immer gemeinsam laufen. Dann sind die nächsten zwei dran. Zehn Mann also pro Team, das macht für jeden Teilnehmer zehn Kilometer. Sagte ich zehn Mann? Das stimmt natürlich nicht, reine Männermannschaften sind nämlich verboten. In jedem Team müssen mindestens zwei Frauen sein.

Komischerweise sind reine Frauenmannschaften nicht verboten. Allerdings gab es in der Geschichte des 100-Kilometer-Staffelrennens erst zweimal reine Frauenmannschaften. An das erste Frauenteam kann ich mich noch gut erinnern. Es waren die „Emmas“. Wie jedes Jahr wurde ich alle paar Meter in der Fußgängerzone gefragt, ob ich nicht Lust hätte, beim Team der „lonely runners“ oder den „Silberpfeilen“ mitzulaufen? Weder die eine noch die andere Mannschaft kam für mich in Frage, denn weder fühlte ich mich einsam, noch hatte ich graue Haare.

Nur eine Mannschaft fragte mich nicht, das waren die „Emmas“. Natürlich bin ich keine Emma, aber der Meinung, die ideale Besetzung für den Quotenmann zu sein. Den jedoch wollten sie nicht. Wirklich gebraucht haben mich die Mädels ohnehin nicht, denn die „Emmas“ kamen unter die besten fünf. Wenn sich die Damen heute zu einem Dauerlauf aufmachen und ihnen lokale Läufer begegnen, raunen sich die Jungs hinter vorgehaltener Hand zu: „Das sind die ‚Emmas‘.“ Jahre später gingen sie unter dem Namen „Lahme Enten ohne Erpel“ noch einmal an den Start. Und tatsächlich liefen sie wie lahme Enten. Auch ein Erpel hätte an der Platzierung nur noch wenig ändern können.

Ob nun lahme Enten oder nicht, in der Laufszene waren die Damen zur Legende geworden. Jeder kennt sie und begegnet ihnen mit dem größten Respekt. Vor wenigen Tagen, zum Jahreswechsel, wurde ich mit dem Auftrag zum Einkaufen geschickt, ein paar Silvesterböller zu kaufen. Das Angebot war groß, es gab ein Feuerwerk namens „Vancouver“, eines hieß „Las Vegas“ und ein anderes „Paris“. Leider kam ich sehr spät zum Einkaufen, so waren nur noch die spärlichen Reste des großen Angebots zu haben. „Das Feuerwerk ‚Paris‘ scheint mir das beste Angebot zu sein“, sagte noch meine Frau, bevor ich ging. „Das ist die beste Mischung zum besten Preis.“ Zu meinem Glück fand ich noch eine Packung vom Feuerwerk „Paris“, die allerletzte. Ich schnappte sie mir und legte sie in meinen Einkaufswagen. In diesem Moment tauchte eine „Emma“ neben mir auf. Ich murmelte ein leises „Hallo“ und war scheinbar vertieft in die Beschreibung meiner Raketen.

Die „Emma“ beachtete mich nicht, sondern blieb vor dem Korb der Feuerwerksraketen stehen und sagte zu ihrem Sohn: „Gott sei Dank, das Feuerwerk ‚Vancouver‘ ist noch da. Das sind die Raketen mit den besten Farben, der höchsten Reichweite. Und alles in allem“ – dabei tippte sie auf die Beschreibung der Packung – „dauert das Feuerwerk vier Minuten. Die optimale Mischung eben.“ Sie packte drei Pakete in ihren Wagen und ging. Ich war ein wenig verwirrt. Die beste Mischung? „Vancouver“? Doch nicht „Paris“? Konnten sich „Emmas“ täuschen? Ich legte das einzig noch verbliebene Feuerwerk „Paris“ wieder zurück ins Regal und nahm mir zwei „Vancouver“-Pakete. Zufälligerweise sah ich an der Kasse die „Emma“ wieder, freundlich lächelte sie mir zu und legte dabei die Packung des Feuerwerks „Paris“ auf das Band.