REGIERUNGSKLAUSUR IN GENSHAGEN: DIE GROSSE KOALITION FASST TRITT: Ab in die Mitte
Angela Merkel ist erstaunlich beliebt bei den Deutschen. Vor kurzem hat sie die Bundestagswahl für die Union fast noch verloren, aus eigenem Verschulden. Ihr fehlt jeder Anflug von Charisma, ihre Silvesteransprache war eine erbarmungswürdig linkische Predigt, die auch braven Christenmenschen in den Ohren dröhnte. Und die große Koalition, die sie nun anführt, wollte sie nie.
Doch offenbar kommt gerade Merkels pragmatischer Imagewechsel gut an. Vor vier Monaten redete sie noch zuweilen wie eine US-hörige Neoliberale. Heute fordert sie die Schließung von Guantánamo und setzt sich für den Mindestlohn ein, so als wäre ihr nie anderes in den Sinn gekommen. Das Publikum hält das nicht für Opportunismus, sondern für angemessen: Merkel besetzt die Mitte, die hierzulande mental sozialdemokratisch ist. Und das tut sie ziemlich geschickt.
Ähnliches gilt für die gesamte große Koalition. Sie scheint unerwartet gut anzukommen. Das Regierungsgeschäft funktioniert reibungslos. SPD und Union, die sich im Wahlkampf noch bösartig attackierten, scheinen zu sich gefunden zu haben. Der ermüdende, krawallige Dauerton, mit dem sich SPD und Union seit Jahren rhetorisch bekämpften, ist mit einem Schlag verschwunden. Das ist durchaus ein Gewinn. Denn dieses routinierte Anklagespiel war, angesichts der real existierenden großen Koalition, in der die Union via Bundesrat mitregierte, sowieso eine Mogelei. Union und SPD waren sich in den zentralen Fragen immer viel näher, als sie es zugeben mochten. Das können sie nun – und das darf die Öffentlichkeit als Gewinn an Deutlichkeit verbuchen.
Auf der Minusseite steht, dass unklar ist, wohin die Regierung will. Bei ihrer Klausur in Genshagen probiert sie mit dem Investitionsprogramm ein ganz, ganz kleines bisschen Keynesianismus aus. Dazu kommt noch der Kombilohn – ein alter Hut, der zeigt, dass die Regierung zu leer drehendem Aktionismus neigt. Die Vollbeschäftigung beschwören, auf den Aufschwung hoffen, mit hektischen Reformen den Eindruck vertreiben, dass man nichts Wirksames gegen Arbeitslosigkeit tut – all das erinnert ziemlich deutlich an die ratlosen letzten Jahre von Rot-Grün. STEFAN REINECKE
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