: Hinfallen, aufstehen, weitermachen
FILM Die Kreuzberger filmArche ist die größte selbstorganisierte Filmschule Europas: Hier werden sämtliche Aufgaben von der Unterrichtsgestaltung bis zur Kontaktpflege von den Studierenden selbst übernommen. Ein Werkstattbesuch
JOEY STEFFENS, STUDENTIN
VON SUSANNE MESSMER
Die Sonne scheint, man könnte wunderbar am Kreuzberger Kanal Zeitung lesen oder Kaffee trinken, aber Joey Steffens, James Rosalind, Natalia Sanhueza und zwei weitere Studierende der Filmschule filmArche sitzen in ihrem kleinen Schnittraum in der Schlesischen Straße. Die fünf angehenden Regisseure arbeiten konzentriert. Es ist die erste Stunde des Tages, eine Organisationsstunde, und es geht um ihre Abschlussfeier im Herbst. Nur: Von den 13 Studierenden der Regieklasse 10 sind weniger als die Hälfte anwesend. „Sind wir überhaupt mehrheitsfähig?“, fragt Joey Steffens, die die Runde leitet. „Ein Grundkurs in Demokratie“, antwortet Natalia mit routiniertem Grinsen.
Die Studierenden hier sind es gewöhnt, dass Dinge wie diese an ihrer Schule länger dauern als an anderen. Denn die filmArche, die kürzlich ihren 10. Geburtstag feierte, ist mit rund 250 Mitgliedern die größte selbstorganisierte Filmschule Europas. Das heißt: Hier werden sämtliche Aufgaben, vom Unterricht bis zur Kontaktpflege mit Regisseuren, von Studierenden übernommen. Wer hier drei Jahre lang eines der fünf Fächer Regie, Dokuregie, Kamera, Drehbuch, Montage oder Produktion studiert, zahlt 70 Euro Studiengebühr im Monat. Von diesem Geld werden drei Seminarräume, zwei Schnitträume, ein Presse- und ein Produktionsbüro sowie ein Foyer für Filmvorführungen finanziert – sowie manchmal Dozenten.
Mentoren sind dabei
Wer an der filmArche studiert, hat an anderthalb Tagen wöchentlich Unterricht. Dieser orientiert sich an einem Curriculum, der auf den Erfahrungen der Älteren beruht und ständig modifiziert wird – so werden in der Regieklasse beispielsweise Unterrichtsstunden zu den Themen Stoffentwicklung oder Drehbuchanalye empfohlen. Am Anfang bekommen die Klassen Mentoren aus den älteren Semestern, am Ende gestalten die Studierenden den Unterricht selbst oder laden selbst Dozenten ein. Zusätzlich gibt es etwa Filmvorführungen mit bekannten Regisseuren von Andreas Dresen bis zu Harun Farocki.
In jedem Jahr der Ausbildung produziert jeder Studierende zusätzlich zum Unterricht einen Kurzfilm. Damit aber noch nicht genug: Denn jeder, der hier studiert, kann damit rechnen, dass er in die Schule mindestens noch einmal so viel Zeit stecken wird, wie der Unterricht und die Produktion seiner Filme dauert.
Die zweite Stunde in der Regieklasse 10 von Joey Steffens, Natalia Sanhueza und den anderen findet im Seminarraum statt, denn der hat einen Beamer. Marco Theophil, ebenfalls Studierender in dieser Klasse, schiebt einen Aktenordner zur Seite, auf dem „Gründer-Coaching“ steht. Er wirft sein MacBook an und sucht den virtuellen Ordner „Filmausschnitte“. Der Rest des Vormittags ist Ridley Scott gewidmet, Marco Theophils Idol, wie sich zeigt. Zunächst zeigt der Student unkommentiert eine Eröffnungssequenz von „Blade Runner“, Ridley Scotts berühmtesten Film aus dem Jahr 1982.
Es folgen ein paar biografische Informationen aus Wikipedia – über Ridley Scotts Anfänge als Grafikdesigner und Regisseur von Werbespots, über seine späteren, oft beliebig wirkenden Ausflüge in Genres wie Fantasy, Kriegs- und Historienfilm. Und während schon leichte Zweifel über den Erkenntniswert dieser Veranstaltung aufkommen, entspinnt sich plötzlich in der Runde eine interessante Diskussion.
James Rosalind, ein Londoner um die dreißig, fragt sich, ob Ridley Scott ein „Auteur“ sei, ein Autorenfilmer. Auch wenn diese Frage an diesem Vormittag nicht beantwortet werden kann: Das Nachdenken darüber, was die Handschrift eines Regisseurs ausmachen kann und ob die Idee eines Autors heute überhaupt noch wichtig ist – all das ist produktiv, viel erhellender als die Person Ridley Scott, und es arbeitet noch lange im Kopf weiter.
Während der Mittagspause erklären James Rosalind, Joey Steffens und Natalia Sanhueza, was ihnen so gut gefällt an der filmArche. Tatsächlich ist es zum einen, dass man hier vor allem lernt, selbst zu lernen – ein bisschen wie an einer Freien Schule oder auch an der Uni, bevor sie so verschult wurde, wie sie heute ist. Außerdem geben die Studierenden ihr Wissen weiter, es entstehen Ressourcen und Kontakte, die von Jahrgang zu Jahrgang umfangreicher werden.
James Rosalind lebte lange Zeit als Fahrradlehrer in London. Er hatte nie einen starken Bezug zum Filmemachen im elitären London, sagt er: „Da war irgendwie kein Link zu meinem Leben.“ Aber dann, nach seiner Ankunft in Berlin vor sechs Jahren, rutschte er in die D.I.Y.-Szene hinein, D.I.Y steht für Do it yourself. Er gründete das queere Filmfestival „Entzaubert“, auf dem hauptsächlich „selbst gemachte“ Filme von Autodidakten laufen, Filme ohne große Budgets, Produktionsfirmen oder Fernsehsender im Rücken.
Zur filmArche kam James Rosalind, weil man hier weder Zeugnisse braucht noch perfekt Deutsch sprechen muss. Das Bewerbungskomitee, in dem ehemalige und aktuelle Studierende sitzen, achtet weniger auf Vorqualifikationen als auf die Leidenschaft der Bewerber fürs Filmemachen – und ob sie sich mit dem kollektiven Gedanken, der die filmArche antreibt, identifizieren können.
„So ist diese Schule zu einem Sammelbecken für Kreative aus aller Herren Länder geworden“, meint auch Natalia Sanhueza aus Chile, eine kleine Frau Ende zwanzig mit sehr entschlossenem Blick. Vor wenigen Jahren kam sie nach Berlin, um hier Filmwissenschaften zu studieren. Nach dem erfolgreichen Abschluss wollte sie die andere Seite des Filmemachens kennenlernen – und ist sehr zufrieden mit dem, was man hier lernen kann. Gerade versucht sie den chilenischen Filmemacher und Neuberliner Sebastián Lelio als Dozenten für ihre Klasse zu gewinnen. Im Februar gewann sein Film „Gloria“ auf der Berlinale den Silbernen Bären für die beste Darstellerin.
Natalia Sanhueza weiß genau: Leute wie Lelio, aber auch Leute wie sie selbst – all die Kreativen und Lebenskünstler: Sie kommen nach Berlin wegen der billigen Mieten. Und wegen der vielen Menschen, die hier kompromissloser als anderswo tun können, was sie wollen. Da passt eine Institution wie die filmArche sehr gut ins Bild, wo das Gelingen vom gemeinsam Erarbeiteten abhängt, wo man Nebenjobs braucht, um sich das Studium zu finanzieren – wo man aber auch viel Herzblust investieren muss, um davon zu profitieren.
Anderntags lädt die 25-jährige Joey Steffens ins riesige Wohnzimmer ihrer Neuner-WG. Auch Natalia Sanhueza ist gekommen und zeigt ihren Film „Erste Etage“ – einen Kurzfilm über zwei einsame Alte im Ostberliner Plattenbau. Der Film mit dem bekannten Schauspieler Klaus Manchen weiß viel übers Altsein in Deutschland: Vom Spitzendeckchen bis zu den hölzernen Dialogen zwischen Vater und Sohn stimmt hier einfach alles.
Gut möglich, dass der nächste Film, der Abschlussfilm von Natalia Sanhueza, auf Festivals Erfolge feiern wird – so wie zuletzt der filmArche-Film „Lilli“ von Jan Buttler, der seine Geschichte sehr behutsam aus der Perspektive eines Kindes erzählt. „Lilli“ erhielt das Prädikat „besonders wertvoll“, beim Filmfest Eberswalde bekam er den Publikumspreis und beim Chicago International Children’s Film Festival den zweiten Preis der Erwachsenenjury. Erfolgreiche Filme wie diesen hat die filmArche in den letzten zehn Jahren immer öfter hervorgebracht.
Natalia Sanhueza klappt ihren Computer zu. Sie kann gar nicht so recht sagen, warum ihr Film übers Alter auch auf den deutschen Zuschauer so echt wirkt. Vielleicht liegt es daran, dass sie und ihre Kommilitonen nicht mehr so viel darüber nachdenken, woher sie kommen. Vielleicht ist es nichts Besonderes mehr, besonders zu sein, wenn jeder besonders ist. Auch Joey Steffens erzählt, dass sie nicht in Deutschland aufgewachsen ist, als sie danach gefragt wird. Ihre deutsche Mutter ging schon vor Joeys Geburt nach Holland.
In Holland hat Joey Steffens auch ihren ersten Film gedreht, einen biografischen Kurzfilm, der mithilfe eines Amsterdamer Lokalsenders bei einem Workshop entstand und dann sogar auf Festivals lief und Preise gewann. Der Film handelt von Joeys Suche nach ihrem Vater, einem Mann aus Ghana. Rau montiert ist der Film, fast ein wenig slapstickhaft – und spielt dabei mit dem Konzept der glücklichen Familie, wie man es beigebracht bekommt. Als Joey Steffens erst einmal einen Kaffee kocht, spricht sie zuerst von den Anschlussfehlern in ihrem Film – trotzdem mag sie ihn, findet ihn viel lebendiger als den, den sie nach zwei Jahren an der filmArche drehte.
Viel zu viele Termine
„Plattensprung“, ebenfalls ein Kurzfilm, erzählt von einem jungen Mann, dem die vergessenen Termine langsam über den Kopf wachsen – und in Form stummer Statisten seinen kleinen Flur belagern. Eine gute Idee für einen kurzen Film, aber irgendetwas stimmt trotzdem nicht damit. Es ist, als würden die Figuren des Films keinen Kontakt zueinander finden, als würde die Absurdität der Situation keine Funken schlagen.
Joey Steffens zuckt mit den Schultern. Sie sagt, dass sie es irgendwie nicht geschafft hat, dem Film Leben einzuhauchen. Doch dann lacht sie wieder. „Es gehört beim Filmemachen dazu, auf die Fresse zu fallen“, sagt sie. Sehr gut erinnert sie sich ans Screening ihres Films im Foyer der Schule, zu dem alle Studierenden eingeladen sind. Es gab einige, die den Film mochten – aber auch harte Kritik.
Vielleicht ist es sogar das, was Joey Steffens an der filmArche am besten gefällt: Man fällt hin, steht auf, und dann macht man weiter. In der filmArche jedenfalls kann man sicher sein, dass die anderen einem aufhelfen.
■ Die Bewerbungsfrist für neue Studierende endet am 31. Mai. Infos unter www.filmarche.de
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