: Die neuen Habenichtse
KONSUM Junge Unternehmer arbeiten an einer Wirtschaftsrevolution. Teilen statt kaufen, lautet ihr Credo. Wir müssen nicht alles besitzen. Und haben genauso viel Spaß, aber verschwenden weniger. Doch die Widerstände sitzen in den Konzernzentralen – und in jedem Einzelnen. Kann das funktionieren?
■ Der Termin: Am 2. Juni sind Menschen weltweit dazu aufgerufen, Dinge miteinander zu teilen oder zu tauschen.
■ Das Thema: Essen. In Kooperation mit den Partnerorganisationen finden aber auch andere Aktionen statt wie Kleidertauschparties oder Radtauschaktionen.
■ Die Orte: In 192 Ländern sollen Aktionen stattfinden, auf der Webseite meetup.com/Sharing-Economy-meetup/ gibt’s die Übersicht. In Deutschland organisiert mealsharing ein Picknick am 2. Juni, 12.30 Uhr am Brunnen im Volkspark Friedrichshain in Berlin. Jeder soll Essen mitbringen und das mit den anderen Teilnehmern teilen.
VON JULIA AMBERGER
Die Idee, mit der Philipp Gloeckler das Wirtschaftssystem zerstören will, ist elf Buchstaben lang. Sie hat mit der schwarzen Gitarre zu tun, die in seiner Wohnung in Hamburg-Altona an der Wand lehnt.
Gloeckler hat mal in einer Band gespielt, Songs von Nirvana, Guns n’ Roses. Vor einigen Wochen hat er eine Westerngitarre im Internet entdeckt. Er hat auf das Foto geklickt, auf den Button „Produkt ausleihen“ – und ein paar Tage später hat ihm eine junge Frau die Gitarre vorbeigebracht, bei ihr hat sie nur in der Ecke gestanden. Jetzt kann er Father and Son spielen, halbwegs, sagt er.
Die Verleihplattform whyownit.com hat er vor einem Jahr gegründet, als er gerade aus dem Südafrikaurlaub zurückgekommen war. Wie komme ich an ein Surfbrett, hatte er sich da gefragt. Heute nutzen die Webseite schon 10.000 Menschen, sie haben ihre Fahrradpumpe, ihr Zelt, das Partykleid, das Auto, ein Foto des Gästezimmers und ihres Hundes hochgeladen, um sie in einem Netzwerk von Freunden zu teilen. Aber eben nicht wie bei Facebook, wo es um Bilder geht, um Links und Kommentare auf der Pinnwand. Auf whyownit.com werden Gegenstände geteilt, aus Holz, Stoff, Metall und Plastik.
„Du musst nicht alles besitzen – wichtig ist, dass du Zugang zu den Dingen hast, die du nutzen willst“, sagt Gloeckler.
Das ist das Zerstörerische.
Philipp Gloeckler ist 29 Jahre alt und sieht aus, wie man sich einen lässigen Start-up-Gründer vorstellt: Kapuzenpulli, große Brille, schwarzer Rahmen, die Baseballkappe locker auf den kurzen Haaren. Gloeckler gehört zu einer jungen Generation von Gründern, die statt sinnlos zu konsumieren lieber bewusst teilen und tauschen will. Ihre Protagonisten kommen in Sneakers dahergefedert, nicht in Birkenstock-Sandalen oder Doc Martens, auch wenn sie ein Wirtschaftsmodell etablieren wollen, das schon lange in landwirtschaftlichen Kooperativen oder auf Berliner Dachgärten gelebt wird.
Sie sitzen wie Gloeckler in einer Dachgeschosswohnung in Hamburg-Altona. Wie der Privatautoverleiher Michael Minis in einer WG in Aachen. Und wie der Vertrauensdealer Nam Chu Hoai in einem Plattenbau in Berlin-Lichtenberg.
Sie alle haben eine Botschaft, für die auch ein Spot für whyownit.com wirbt. Zwei junge Männer sitzen sich gegenüber. Der eine streckt dem anderen sein Smartphone entgegen. Er zeigt ein Foto von seinem Haus, seinem Auto, seinem Boot. Der andere hält ihm sein Smartphone hin. Zwölf Häuser, zwölf Autos, zwölf Boote, zwölf Fahrräder. „Buy less, borrow more.“
Es gibt zwei mächtige Gegner, mit denen sich Gloeckler und seine Mistreiter beschäftigen müssen. Die Industrie – und jeden Einzelnen von uns.
Was, ich soll mein Auto teilen?
Philipp Gloeckler plaudert drauflos, als sei man befreundet. Dabei wischt er ständig auf seinem Smartphone herum. Er hat Wirtschaftsinformatik in Holland studiert. Er hat ein eigenes Öko-Modelabel auf den Markt gebracht und einen Onlineversand für nachhaltige Produkte. Jetzt will er das Wirtschaftssystem stürzen. Die „Old Economy“, wie er sie nennt, zerstören. Er ist ein Hedonist mit einem klaren Programm.
Seit diesem Jahr kauft er nichts mehr. Gar nichts. Bis auf Essen. Und seinen Pulli tauscht er, wenn er nicht mehr passt oder abgetragen ist. „Das ist so, als würdest du mit dem Rauchen aufhören“, sagt Gloeckler. „Du musst im Kopf immer umschalten und dir sagen: Nee, das kann ich mir auch leihen.“
„Teilen war ja schon mal Mainstream“, sagt Gloeckler. „Aber nach dem Krieg mussten wir wie blöd kaufen und konsumieren. Davon befreien wir uns jetzt.“
Es klingt, als sei es das Normalste der Welt, wie Gloeckler das so sagt. Doch denkt man das alles einmal zu Ende, ist das Ergebnis eine Wirtschaftsrevolution. Eine, die nicht nur das Prinzip unserer Wachstumswirtschaft infrage stellt. Wenn viele teilen, wird viel weniger gekauft. Wenn weniger gekauft wird, wird weniger produziert. Wenn weniger produziert wird, schont das die Umwelt. Das Teilen setzt auch, zumindest teilweise, einen persönlichen Antrieb außer Kraft, der Identität stiftet: Haben wollen! Mein Auto, mein Haus, oder wenigstens: mein Flachbildfernseher. Mein Macbook Air.
Shareconomy nannte die IT-Messe Cebit in diesem Jahr die Bewegung. Von Collaborative Consumption sprechen andere, dem gemeinschaftlichen Konsum von Ressourcen, die zeitweise brachliegen. Das Internet hat das Teilen erleichtert, es bringt die, die etwas haben, und die, die etwas wollen, viel schneller zusammen. Jede Woche entstehen neue Start-ups, die das Teilen zum urbanen Lebensstil erklären. Am 2. Juni ist „Global Sharing Day“, mit Aktionen weltweit.
„Ich glaube nicht, dass Menschen glücklich sind, wenn sie Geld für Produkte ausgeben, sondern für Erlebnisse“, sagt Gloeckler. Er will, dass sich Leute weiterhin kaufen, was sie lieben, „aber nur das“. „Du brauchst keine Bohrmaschine, sondern ein Loch in der Wand. Du brauchst kein Snowboard, sondern einen Wintersporturlaub. Nicht das coole Buch, sondern die Geschichte, die in dem Buch steht.“
Manche brauchen auch: Schuhe, Brot, Hilfe bei der Buchhaltung. Das Prinzip des Teilens und Tauschens ist besonders in den Krisenländern der Eurozone in den letzten Jahren gewachsen. Auch dort, in Spanien oder Griechenland, versorgen sich viele über Internetportale mit dem Nötigsten.
In Gloecklers Vorstellung ist Besitz eine Last. Ein eigenes Auto zum Beispiel verursache mehr Ärger als Spaß. Man denke nur an die Angst, dem Auto könne was passieren. Die Versicherung. Die Reparaturen. „Es geht um den Moment, in dem du das Auto fährst.“
Wissenschaftler wie Michael Kuhndt erkennen darin die Anzeichen eines neuen Lebensstils. Kuhndt leitet das Collaborating Centre on Sustainable Consumption and Production in Wuppertal und berät Gründer, die mit dem Teilen Geld verdienen wollen. „Besitz wird zunehmend als Belastung empfunden“, sagt er.
Das zeige sich besonders am Auto. 1998 lebte jeder zehnte Deutsche zwischen 18 und 34 Jahren in einem Haushalt ohne Auto. 2008 war es einer Studie des Instituts für Mobilitätsforschung zufolge schon jeder fünfte. Gab 1991 gut die Hälfte der Studierenden Geld für ein eigenes Auto aus, waren es 2009 laut Studentenwerk nur noch 34 Prozent. „Sie müssen kein Auto besitzen, um mobil zu sein“, sagt Kuhndt. „Sie können auch jederzeit das Auto in der Nachbarschaft nutzen.“
Philipp Gloeckler will die große Revolution
Das Auto repräsentiert nicht mehr den sozialen Status des Besitzers – darin sind sich der Wirtschaftswissenschaftler Kuhndt, der Zukunftsforscher Andreas Reiter und der Sozialpsychologe Harald Welzer einig. Stattdessen wünschten sich die 16- bis 21-Jährigen heute ein Smartphone.
Wie kompliziert das mit dem Teilen allerdings ist, merkt man erst, wenn man es tatsächlich macht.
Ein Vater im Schwäbischen hätte gern Sky, um Samstagnachmittag die Bundesliga zu sehen. Teil dir das doch mit deinem Nachbarn, schlägt der Sohn vor. Dann müsste ich doch ein Kabel rüberlegen, sagt der Vater. Oder ihr schaut einfach zusammen, sagt der Sohn.
Der Vater schweigt.
Man würde sich wieder mehr sehen. Das klingt so, als würde das Leben dadurch ein bisschen geselliger. Aber will man jetzt wirklich zur Nachbarin gehen und nach einem Bohrer fragen? Womöglich klingelt sie auch bald, wenn die Butter ausgeht oder die Glühbirne nicht mehr funktioniert. Wer teilen will, muss in Kontakt mit der Außenwelt treten, er muss eine Schwelle überwinden, sein individualisiertes Leben ein Stück weit verlassen.
Er muss das Habenwollen lassen wollen.
Ein besonders einleuchtendes Beispiel fürs Teilen ist das Auto. Mag sein, dass das Carsharing deshalb wie das große Aushängeschild der Shareconomy wirkt. Mehr als 450.000 Deutsche haben 2012 dem Bundesverband Carsharing zufolge Autos von Stadtmobil, Cambio oder Car2go geliehen, fast doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Die Zahl der Autos, die sich per Internet orten und überall abstellen lassen, ist in einem Jahr von 1.300 auf 4.550 Autos gestiegen.
Michael Minis hat die Idee mit seiner kleinen Firma bisher am radikalsten gedacht. Er will die Leute dazu bringen, ihre eigenen Autos an wildfremde Menschen zu verleihen.
Minis könnte in seinem Trenchcoat auch als Versicherungsvertreter durchgehen, den Schal ordentlich um den Hals gebunden. Er ist 27 Jahre alt, groß, schmal, die kurzen, blonden Haare drehen sich zu Locken.
Vor drei Jahren hat er sich bei einem Seminar die Webseite Tamyca ausgedacht, über die sich Privatleute von anderen Privatleuten Autos leihen können. Die Gebühr legen die Besitzer selbst fest – sie reicht von 15 Euro für vier Stunden in einem VW-Polo bis zu 380 für einen Tag mit einem Porsche Boxster. 3.500 Menschen stellen über die Plattform ihre Autos zur Verfügung. 35.000 Menschen nutzen Tamyca. Wird ein Auto verliehen, gehen 15 Prozent der Kosten an das Start-up.
Die Tamyca-Zentrale liegt in Herzogenrath, einer 45.000-Einwohner-Stadt an der Grenze zu Holland. Minis kommt aus dieser Gegend. Als er Tamyca gründete, studierte er im letzten Jahr Maschinenbau in Aachen. Sein Geld verdiente er da noch mit Domführungen und eigenen Fotovoltaikanlagen.
An diesem Abend ist Minis in Hamburg. Vom Restaurant aus kann man die Speicherstadt der Hafencity sehen, die Sonne scheint durch die Glasfassade. Er sitzt auf einem Lederhocker und tippt auf ein iPad, das er am Empfang bekommen hat. Kaffee, klick. Cappuccino, klick. Mit Koffein, klick. Bestellen, klick. Das gefällt ihm.
Er habe sein Start-up gegründet, weil er keinen Bock mehr auf das klassische Modell hatte, sagt Minis. Entweder du kaufst dir ein Auto, oder du gehst zum Vermieter. „Derweil haben wir schon so viele Autos produziert, die stehen ungenutzt rum und blockieren die Straßen“, sagt er. „Wir haben den Sättigungspunkt längst erreicht und brauchen einen Wandel.“
Wie ungewöhnlich seine Idee im Autobesitzerland Deutschland vielen vorkam, merkte Minis, als er eine Versicherung für die Privatautos finden musste, wenn sie nicht von den Besitzern gefahren werden. Viel schwieriger noch war es, die Leute dazu zu bringen, ihre Autos herzugeben.
Er sprach mit Bekannten, die ihren BMW oder Mercedes selten nutzten, über die Angst, ihr Auto beschädigt wiederzubekommen, und überhaupt glaubten sie nicht daran, dass jemand ein Privatauto ausleihen wolle.
3.500 Autobesitzer, die ihre Wagen auf Tamyca verleihen. Bei 43,5 Millionen Autoinhabern in Deutschland macht das nicht mal 0,01 Prozent.
Doch von Stuttgart, Ingolstadt oder München aus betrachtet, wo die großen Autohersteller sitzen, wirkt das, was Minis macht, wie ein Angriff. Die Verkaufszahlen in Deutschland sinken, im März verringerte sich die Zahl der Neuzulassungen um 17 Prozent im Vergleich zum selben Monat im Vorjahr. Was, wenn sich irgendwann alle ihre Autos leihen? Auch noch untereinander?
Landwirte, die sich zu zehnt gemeinsam einen Mähdrescher kaufen. Omas, die sich mit Einweckgläsern aushelfen. Junge Leute, die sich auf Dörfern gegenseitig mit dem Auto mitnehmen. Die Idee des Teilens gab es schon immer. Heute jedoch wollen zunehmend die großen Konzerne mitmischen.
GESCHICHTE Teilen gehört zum Wesen des Menschen und ist eine grundlegende Form des Verhaltens, die schon seit Beginn der Menschheit die sozialen Beziehungen untereinander regelt.
2.
Bedeutung Je mehr Einkindfamilien und Einpersonen- haushalte es gab, desto kleiner wurde die Zahl der Menschen, mit denen man teilt. Gerade weil das Teilen nicht mehr alltäglich ist, wird es interessant.
3.
Krisen Materielle Knappheit fördert die Bereitschaft zum Teilen: Personen, die sich bestimmte Dinge nicht leisten können, tauschen mehr und häufiger. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten wächst damit die Bedeutung des Teilens.
4.
Sorgen Menschen, die perfektionistisch veranlagt sind, tauschen weniger gern, weil sie Angst haben, dass andere nicht sorgfältig genug mit ihren Dingen umgehen. Vor allem Frauen teilen, einfach weil sie sich so besser fühlen.
5.
Unternehmen Wer künftig als Anbieter Erfolg haben will, braucht Produkte, die man teilen kann. Je mehr wir teilen, desto unabhängiger werden wir von herkömmlichen Anbietern und ihren Bedingungen.
6.
Alltag Je mehr wir mit jemandem teilen, umso näher steht uns diese Person.
Alle Thesen stammen aus der Studie „Sharity – die Zukunft des Teilens“ des Gottlieb Duttweiler Instituts
Tamyca und andere Carsharing-Angebote haben die Hersteller und Autoverleiher aufgeschreckt: Nachdem das Start-up mit einem Preisvergleich mit dem größten deutschen Autovermieter Sixt warb, klagte Sixt vor dem Landgericht München. Viele Hersteller sind nun selbst in das Geschäft eingestiegen – 30 Jahre haben sie gebraucht, um zu verstehen, dass man die gemeinsame Nutzung von Autos adaptieren sollte. In Berlin, Köln und München, aber zunehmend auch in der Provinz, sind jetzt Autos mit der Aufschrift „Drive Now“ zu sehen, dem Carsharing-Ableger von BMW. Daimler verleiht Autos über Car2Go.
Minis will in kleinen Schritten voranschreiten
Ist das ein Versuch, das revolutionäre Potenzial der Bewegung zu zerstören, bevor es sich so richtig entfalten kann? Oder der Beweis, dass zumindest Carsharing eine Relevanz erreicht hat, die die Großen der Branche nicht mehr ignorieren können?
Es bleibt der Autoindustrie nichts anderes übrig. Der EBS Business School zufolge kann sich jeder Dritte sehr gut vorstellen, Carsharing in Zukunft zu nutzen. Für mehr als die Hälfte der Befragten ist es eine Alternative zum Autokauf. Sich ein Auto zu leihen, gehöre für sie zum urbanen Lifestyle. Viele Städter nutzen das Modell als bequeme Alternative zur U- und S-Bahn.
Teilen kann halt jeder, sagt der Sozialpsychologe Harald Welzer. „Wenn das Sharing in bestimmten Bereichen der Wirtschaft ankommt, zeigt es ja, dass es beide Seiten hat: Es ist vermarktbar und so relevant, dass man nicht daran vorbeigucken kann.“ Welzer sieht in dem Modell Sprengkraft. Es stelle das kapitalistische Geschäftsmodell infrage.
Und es ist eben ein Geschäft. Eines, bei dem auf den größten Märkten längst auch die größten Player mitmischen wollen.
Minis stört das nicht. Auch er verfolgt das Ziel, Geld damit zu verdienen, dass sich andere Leute ihre Privatautos teilen. „Uns war von Anfang an klar, dass wir keine NGO sind“, sagt er. Minis sieht sich ohnehin nicht als Revoluzzer. „Wir gehen nicht auf die Barrikaden und wollen den Kapitalismus kaputt machen.“
Er nennt sich Innovator. Er will eine bestehende Wirtschaftsform leicht anpassen, um etwas Neues zu schaffen. Und dabei sei er darauf angewiesen, dass so viele Menschen wie möglich mitmachen. Deshalb darf die Veränderung nicht so groß sein, sagt er, man müsse in kleinen Schritten voranschreiten.
Minis will den Leuten beibringen, Feuer zu machen. Gloeckler will die Revolution.
Die Werbeindustrie und die Banken trichterten den Menschen ein, sie bräuchten unbedingt den neuen Plasmafernseher für 400 Euro, sagt er. „Dann geben die Banken Kredite raus und verlangen 500 Euro wieder zurück.“ Das regt ihn auf. „Die zerstören unser Leben.“
Vielleicht ist die Kraft dieser neuen Habenichtse aus dem Netz tatsächlich größer als die der alten Anhänger des kollaborativen Konsums. Weil Wirtschaftsrevoluzzer wie Philipp Gloeckler und klassische Gründer wie Michael Minis im Grunde dieselbe Idee teilen, die über den Tauschring in einem Stadtteil oder das Gemüsebeet auf einem Hochhausdach hinauswächst.
Für den Forscher Michael Kuhndt sind Leute wie Gloeckler und Minis Pioniere, die aus den Möglichkeiten des Internets, dem Bedarf an sozialen Kontakten und dem Verständnis, dass wir Ressourcen verschwenden, ein neues Wirtschaftsmodell entwickelt haben. „Gerade weil das Modell aus einer sozialen Bewegung heraus entstanden ist, ist es so stark, dass die Großen nicht daran vorbeikommen werden“, sagt er. „Die Pioniere bereiten den Massenmarkt und die Konsumenten von morgen vor.“ Auch wenn sich der Anteil der Shareconomy an der Gesamtwirtschaft im Augenblick laut Marktforschern noch im Promillebereich bewege.
Kuhndt hält es für möglich, dass bald ein neues Produkt- und Dienstleistungssystem entsteht, in dem man Produkte tauscht und leiht. Waschmaschinen etwa seien im Moment noch schwer teilbar. Aber wenn die Unternehmen sich bewusst machen, dass viele junge Leute nur ein Jahr in Berlin bleiben, entwickeln sie vielleicht passende Angebote. Etwa, dass die Waschmaschine nach einem Jahr abgeholt wird und in eine andere Wohnung kommt, sagt er. „Und warum sollte nicht auch eine neue Denke in den Handelshäusern einkehren?“
„Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, was man alles teilen kann“, sagt Harald Welzer.
Für Michael Minis und seine Firma Tamyca wird es langfristig auch darauf ankommen, wie sehr sich die Menschen vertrauen, die ihre Autos teilen sollen. Er redet deshalb in letzter Zeit häufiger mit Nam Chu Hoai.
In Berlin-Lichtenberg, einem ehemaligen Ostbezirk der Stadt, reihen sich Plattenbauten an Reihenhäuser. Hier ist Nam Chu Hoai aufgewachsen. Er ist 21 Jahre alt und trägt einen blauen Kapuzenpulli, auf dem „Boston College“ steht. Dort studiert er derzeit Informatik.
Seine Mutter schob ihn in einem Kinderwagen durch Lichtenberg, in dem zuvor schon andere Babys lagen. Er hat seine Shirts und Hosen von seinen Nachbarn bekommen und weitergegeben, wenn sie nicht mehr passten. Sogar seine Spielkonsole gab er weiter, als er 14 war. Alles geschah im Sinne der Gemeinschaft. „Ich habe kein romantisches Verhältnis zu Besitz“, sagt Chu Hoai. Er hat eine ungewöhnlich tiefe Stimme für sein Alter und spricht mit einem amerikanischen Akzent. Den hat er aus Boston.
Er weiß, wie das gemeinsame Nutzen von Dingen gelingt. Aber er kennt auch die Probleme.
Chu Hoai ist einer, der die Welt gerne in Modelle fasst. Er kramt in seiner Tasche, zieht ein Stück Papier und einen Stift heraus. Person A – Pfeil – ist befreundet mit Person B – Pfeil – und B ist befreundet mit C. Er zeichnet einen Halbkreis von A nach C. Also kann Anton auch Claus vertrauen, sagt er.
Die wichtigste Variable in seinem Modell sind die Pfeile. Das Vertrauen. „Die größte Hürde ist es, Vertrauen zwischen Menschen herzustellen, die sich zuvor noch nie gesehen haben“, sagt Chu Hoai.
Vor knapp zwei Jahren verwüsteten Gäste eine über das Mietportal AirBnB gemietete Privatwohnung in der Nähe von San Francisco. Sie verbrannten die Bettlaken, brachen Löcher in die Türen und klauten Laptop, Kamera und iPod. Vor einem Jahr stahlen Kriminelle Luxusautos beim amerikanischen Car-Sharing-Anbieter HiGear, mit gestohlenen Identitäten und Kreditkarten.
Nam Chu Hoai will Vertrauen als Währung
Nam Chu Hoai will Unfälle wie diese, wie er sie nennt, vermeiden. Einer von hundert Nutzern sei nun mal „intentionally bad“, sagt er, absichtlich schlecht. Aber wie findet man den?
Vor einem Jahr hat er mit seinem Mitbewohner in Boston, mit dem er sogar sein Bett teilte, die Webseite Credport.org gegründet. Leute, die etwa Tamyca und AirBnB nutzen, können dort ein Profil anlegen, auf dem die Bewertungen zusammenfließen, die sie auf verschiedenen Marktplätzen erhalten. So müssen sie sich nicht auf jeder Webseite neu beweisen.
„Vertrauen ist die neue Währung“, sagt Chu Hoai. Und die will er stabilisieren.
Viele Start-ups reagieren skeptisch. AirBnB etwa habe Angst, Verluste zu machen, wenn zu viele Nutzerdaten offengelegt werden und die Nutzer sich selbst organisieren, sagt Chu Hoai. „Aber die Shareconomy kann nur dann etwas bewegen, wenn wir geschlossen auftreten.“
Chu Hoai ist überzeugt davon, dass das Teilen irgendwann das Haben ersetzen wird. Vielleicht in fünfzig Jahren. Vielleicht noch später. „Es macht einfach ökonomisch Sinn“, sagt er und zieht an seinen kurzen Haaren. „Aber nirgendwo driften Theorie und Realität so weit auseinander.“
■ Die Nutzer: Dirk Feldmann ist ein junger Vater. Er leiht sich Fahrradanhänger, Gartentrampolin oder Kinderpartyset immer online. „Kinder wachsen so schnell, da macht es keinen Sinn, alles neu zu kaufen“, sagt er. Welche Erfahrungen Feldmann und andere Nutzer von Sharing-Seiten machen, lesen Sie auf taz.de/teilen
Man kann das ganz gut nachvollziehen, wenn man sich die Geschichte von den zwei Brüdern im Bayerischen Wald ansieht. Sie sind beide Bauern und der ältere, 55 Jahre alt, findet das Teilen grundsätzlich gut – er gibt das selbst angebaute Gemüse, das er nicht essen kann, an seine Verwandten weiter.
Den Traktor teilt er sich mit seinem Bruder, der acht Jahre jünger ist. Aber der hat neulich schon wieder den Anhänger beschädigt. Er hat das nicht repariert. Im Winter, als der Stiel der Schneeschaufel des Jüngeren brach, hat er sich die des Älteren ausgeliehen und auch die kaputt zurückgegeben. „Jetzt hab ich mir eine neue gekauft und sie im Keller versteckt“, sagt der Ältere. Auch seinem Schwager will er nichts mehr leihen, denn der bringt die Sachen nicht mehr zurück oder verleiht sie weiter.
„Ich frag mich, wie das mit dem Teilen funktionieren soll“, sagt der Bauer jetzt.
Chu Hoai zuckt die Schultern. „Je unklarer der Vertrag festgelegt ist, desto mehr kann schiefgehen“, sagt er. „Es ist die Aufgabe der Marktplätze, Standards festzulegen.“
Den Nutzern von Tamyca etwa müsse klar sein, dass sie das Auto nur mit vollem Tank zurückgeben und nicht darin rauchen dürften. Doch häufig driften Erwartungen und Erfahrungen weit auseinander. Ein Mieter des Portals AirBnB bewertet seinen Gastgeber positiv, weil er ihn vom Flughafen abgeholt hat. Ein anderer kritisiert, dass ihn der Vermieter nicht durch die Stadt geführt hat.
„Aus Erfahrung wissen wir genau, was wir bekommen, wenn wir ein Zimmer im Fünf-Sterne-Hotel mieten oder ein Hostel“, sagt Chu Hoai. „Wenn wir mehr Erfahrungen mit dem Mieten von Privateigentum gemacht haben, wird sich auch unsere Erwartungshaltung öffnen.“
Wenn wir alles leihen und mieten können – was müssen wir dann noch besitzen?
Chu Hoai wohnt gerade bei seinen Eltern. Er besitzt einen Laptop, Kamera, Kopfhörer, ein Handy und einen Sack voll Kleidung. „Aber selbst darauf würde ich gerne verzichten“, sagt er. Seine Daten und Dokumente seien ja alle online – und Kleidung würde er sich lieber leihen. „Die Schränke der meisten Leute sind voll und trotzdem kaufen sie ständig was Neues.“
In Zukunft werden wir nicht mehr an einem Ort leben, sagt Nam Chu Hoai, sondern sechs Monate an einem Ort. „Dazu brauche ich nichts. Abgesehen von meiner ID-Card, meinem sozialen Netzwerk. Und meinen Erinnerungen.“
■ Julia Amberger, 26, ist taz-Volontärin. Geliehene Bücher gibt sie nur auf Nachfrage zurück
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