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Von der Befreiung zum Gedenken

Vor einem Jahr wurde noch einmal mit großem Aufwand erinnert, gemahnt und getrauert – 60 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz, 60 Jahre nach der Invasion in der Normandie, 60 Jahre nach dem Zusammenbruch Deutschlands. Allen Beteiligten schien bewusst: Dies werden wahrscheinlich die letzten Gedenktage sein, an denen viele Zeitzeugen, Täter und vor allem Opfer, am Leben sind. Von nun an werden die nationalsozialistischen Verbrechen unwiderruflich in den Bereich des Historischen, des Gewesenen rücken. Mit der Zahl „sechzig“ – 60 Jahre nach den letzten Mordtaten – ist eine Epochenschwelle markiert, hinter der die zur Geschichte gewordene Vergangenheit beginnt. Wie können wir also künftig dieser Geschichte gedenken? Diese Frage hat sich der Fotograf Mark Mühlhaus gestellt und ihn zu der Arbeit an seinem Bildband „Begegnungen“ motiviert. Er begleitete im letzten Jahr NS-Opfer und alliierte Soldaten zu Gedenkveranstaltungen in der Normandie, in Auschwitz, Wöbbelin und Ravensbrück, Buchenwald, Torgau, Neuengamme und Berlin. Oft verbrachte Mühlhaus mehrere Tage mit ihnen. Auf diese Weise schaffte er eine vertraute Nähe, die sich in den unbefangenen Blicken, in einer Gelöstheit der Porträtierten zeigt, die angesichts der Umstände überrascht. Der Fotograf geht meist ganz nah an die Menschen heran, verwendet kein Teleobjektiv, keine Effekte. Manchmal schauen ihn die Porträtierten direkt an, oft sind sie in Erinnerungen vertieft, die Augen auf den Boden geheftet oder geschlossen. Zwischen diese Fotos stellt Mühlhaus ab und an Bilder der Baracken, Drahtverhaue, Verbrennungsöfen und Gedenksteine – der Zeugnisse und Objekte, die bleiben werden. Mühlhaus’ Band stellt noch einmal die Zeitzeugen in den Vordergrund und ist zugleich ein Dokument dessen, dass künftig stumme Objekte und geschriebene Geschichte an die Stelle des unmittelbar Erinnerten treten werden. Nicht zuletzt das macht dieses Buch so verdienstvoll. DANIEL HAUFLER

Mark Mühlhaus: „Begegnungen. Bildband 60. Jahrestag der Befreiung vom deutschen Faschismus“. Arug & Attenzione, Berlin 2006. 120 Seiten, 90 Fotos s/w, 12 Euro(Abb. aus dem besprochenen Band)

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