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„Botschaft? Welche Botschaft?“

POLITIK Staatspräsident Gül versucht die Demonstranten zu beruhigen. Ministerpräsident Erdogan aber legt noch eins drauf

ISTANBUL taz | Die Szene zeigt beispielhaft, warum die Empörung in der Türkei immer weiter geht. Bei einer Pressekonferenz am Montagmittag wurde Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan von einer mutigen Reuters-Journalistin gefragt, ob er denn nun endlich die Botschaft der Demonstranten verstanden hat. Und Erdogan antwortete: „Welche Botschaft soll das sein? Klären Sie mich doch mal auf.“

Wenige Minuten zuvor hatte Staatspräsident Abdullah Gül noch versucht, die Gemüter zu beruhigen. In einer Ansprache an die Nation versicherte er, Demokratie bestünde nicht nur darin, einmal in vier Jahren wählen zu gehen. Die Menschen hätten alles Recht auf freie Meinungsäußerung. Auch habe die Regierung die Botschaft verstanden, so Gül. Es gäbe nun keinen Grund mehr zu demonstrieren.

Doch die gut gemeinte Ansprache des Präsidenten wurde von einem wütenden Erdogan gleich wieder zunichte gemacht. Für ihn sind die Demonstranten ein ferngelenkter Mob, auf deren Anliegen einzugehen für ihn völlig abwegig ist. Er redete von inländischer und ausländischer Steuerung des Aufstands. Als ein Journalist vorsichtig nachfragte, wo er denn diese ausländische Steuerung sehen würde, gab Erdogan zurück: „Unsere Geheimdienste arbeiten daran.“

Mit dem Beginn der Revolte in Istanbul hat der Regierungschef, der schon zuvor autoritär aufgetreten ist, sich völlig von der Realität entfernt. In einem Fernsehinterview am Sonntagnachmittag holte er wie eine geheime Kommandosache ein Papier hervor: einen Aushang der renommierten Koç-Universität, der darauf verwies, dass Studenten, die wegen der Demonstrationen eine Prüfung verpasst hätten, diese nachholen können. Für Erdogan war das ein Beweis, dass die als säkular bekannte Uni ihre Studenten zu den Protesten aufwiegeln würde.

Selbst regierungsfreundliche Kolumnisten verzweifeln langsam an Erdogan. Auf seinen Auftritt auf dem Weltökonomie-Forum in Davos vor einigen Jahren anspielend, wo Erdogan mit der Intervention „One Minute“ Schimon Peres abkanzelte und damit die Eiszeit mit Israel einleitete, nannte der Liberale Yavuz Baydar die Revolte vom Wochenende das Istanbuler „One Minute“. Doch Baydar bekannte, er habe wenig Hoffnung, dass Erdogan zuhören werde. Oder gar seinen Kurs ändere. „Stattdessen wird er die Wahlerfolge des kommenden Jahres gefährden.“

Aber auch davon will Erdogan nichts wissen. „Meine Anhänger werden dem randalierenden Mob eine Antwort an der Urne geben“, gab er sich im TV-Gespräch selbstsicher. Schon jetzt, drohte er, könne er seine Anhänger nur mühsam davon abhalten, selbst auf die Straße zu gehen, um dem „Mob“ eine Lektion zu erteilen. Sprach’s und startete zu einer viertägigen Reise nach Nordafrika. JÜRGEN GOTTSCHLICH

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