: Durchs wilde Irakistan
ENTWICKLUNG Erbil und Basra, die zwei Metropolen, stehen für die Spaltung des heutigen Irak. Eindrücke von einer Reise in zwei verschiedene Welten, die zu demselben Staat gehören und doch unterschiedlicher kaum sein könnten
VON NAJEM WALI
Alle rieten mir davon ab, die Strecke von Erbil nach Bagdad mit dem Auto zurückzulegen. Selbst mein Bruder in Amara legte mir, als er von meinen Besuchsplänen erfuhr, am Telefon dringend ans Herz, doch lieber den Flieger nach Basra zu nehmen, von wo er mich dann mit dem Auto abholen werde, um mit mir nach Amara zu fahren.
Und das lag nicht etwa nur an der Länge der Strecke, 360 Kilometer von Erbil bis Bagdad, noch an deren besonderer Gefährlichkeit – über lange Strecken einspurig wird die Straße an normalen Tagen im Wesentlichen von Lkws und Transportern dicht befahren, sodass unvorsichtiges Fahren unversehens lebensgefährlich werden kann. Täglich kommt es hier zu schweren Unfällen, selbst in Zeiten einer (von 2008 bis zum Abzug der Amerikaner am 1. Januar 2012) relativ ruhigen Sicherheitslage trug dieses Stück Weg immer den Beinamen „Todesstraße“.
Nein, alle sorgten sich, weil die interkonfessionellen Kampfhandlungen, die vielfach überwunden geglaubt schienen, nun wieder aufzuflammen drohten. Mein Aussehen und Auftreten würden ganz sicherlich an allen Kontrollpunkten der unterschiedlichen Autoritäten entlang des Landweges zur Überprüfung meiner Ausweispapiere und einer eingehenden Durchsuchung führen. Ich würde mich unnötigen Gefahren aussetzen, zweifellos würde man mich aufgrund meines irakischen Ausweises, der klar meinen Geburtsort im Süden des Landes angibt, nolens volens sofort einer bestimmten Bevölkerungsgruppe zuordnen. Und was erst, wenn der Wagen entführt würde?
In einem anderen Land
Wer den Irak nicht gut kennt und zunächst nur nach Erbil kommt, wird annehmen, dass es im ganzen Land so friedlich zugeht wie in dieser Stadt auf der aus der Ebene herausragenden Anhöhe, ohne sich dessen bewusst zu werden, dass man, sobald man die Hauptstadt der Kurdenregion und damit die autonome Region Kurdistan-Irak verlässt, ein ganz anderes Land zu betreten glaubt. Und dies nicht nur wegen der verschiedenen Sprachen – Kurdisch im Norden, Arabisch im Süden –, sondern weil die Grenze zwischen Nord und Süd zwei Welten voneinander trennt, die sich in völlig entgegengesetzte Richtungen entwickeln.
Schaut man sich in Erbil einige Tage um, wird man allerorten Fortschritte eindeutig ausmachen können. Die Region Kurdistan, die schon immer relativ autonom war, genießt nämlich seit dem irakischen Aufstand gegen das Bath-Regime in Bagdad Anfang der 1990er Jahre, an dem sich im Frühjahr 1991 auch die Kurden beteiligten, weitreichende Unabhängigkeit vom Zentralstaat.
Die Garantien, die die neue irakische Verfassung der Region Kurdistan nach 2003 zugestand, inklusive einer festen Zuteilung von siebzehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts, haben diese Unabhängigkeit noch weiter verfestigt, während sich der Bau des Internationalen Flughafens Erbil positiv auf Wirtschaft und Handel ausgewirkt hat. Zum Einzugsbereich des Flughafens gehören nämlich auch große Teile des gesamten Westirak, da Mossul, die zweitgrößte Stadt des Landes nordwestlich von Erbil, gar nicht über einen entsprechend ausgebauten Zivilflughafen verfügt. Man bemerke den Unterschied!
Bei meinem letzten Besuch vor drei Jahren war der Anblick fahrender Händler aus den weiter südlich gelegenen Regionen, insbesondere aus dem so schwer geplagten Bagdad, allerorten gang und gäbe. So war nun deutlich auszumachen, wie die angespannte Lage zwischen der Regierung der Region Kurdistan und der Zentralregierung einerseits und der Krieg in Syrien andererseits sich auch auf den Handel in Erbil ausgewirkt hatten. Heute findet man nämlich sowohl in den traditionellen Basaren als auch in den hochmodernen Einkaufzentren Erbils nicht mehr, wie es noch vor zwei Jahren der Fall war, hauptsächlich syrische Waren.
Stattdessen bieten nun fliegende Händler chinesische Produkte in syrischem Dialekt feil, während in den Lobbys der großen Hotels syrische Angestellte Gäste bedienen, bei denen es sich überwiegend um Händler in der traditionellen Kleidung des sunnitischen Westirak (lange, weite Tunika mit weißem Kopftuch) sowie Händler aus den Golfstaaten handelt.
Und verfolgt man nur einmal kurz deren Gespräche am hintersten Tisch des Frühstücksraums, wird man rasch gewahr, dass es hier nicht nur um den Im- und Export von Waren geht, sondern auch um Deals zur Organisation von Migration in die Golfstaaten, insbesondere nach Bahrain und Katar, um dort durch die Einbürgerung der Neuzuwanderer der zahlenmäßigen Überlegenheit der schiitischen Bevölkerungsmehrheit entgegenzusteuern.
Die Wirtschaft bestimmt heute in Erbil alles. Die Feinde von gestern sind die Freunde von heute, wie sich ebenso leicht an der massiven Präsenz türkischer Unternehmen wie auch am Hotelbau- und Tourismusinvestitionsfieber ablesen lässt. Noch absurder wird es, wenn man daran denkt, dass das kurdische Erbil von der Arabischen Liga zur arabischen Tourismushauptstadt 2014 erkoren wurde, womit es über viele andere arabische Städte, die ebenfalls kandidiert hatten, obsiegte.
Mittlerweile kann Erbil mit der Hauptstadt des Gesamtirak Bagdad in allem mithalten und läuft ihr vielfach schon den Rang ab, so auch bezüglich der Internationalen Buchmesse Erbil, die dieses Jahr bereits zum fünften Mal stattfand. Hinsichtlich der Besucherzahlen, der aktiven Beteiligung namhafter arabischer Verlage sowie der äußerst guten Organisation, die gerade ein Fachbesucher wie ich mit seiner reichen Erfahrung auf anderen Buchmessen, so der auch in Frankfurt, sehr zu schätzen weiß, hob sie sich angenehm ab: Die vom irakischen Kulturministerium jährlich in Bagdad abgehaltene Buchmesse versagt im Vergleich dazu völlig.
Eine Stunde und zehn Minuten dauerte der Flug von Erbil nach Basra. Die Entfernung in der Entwicklung der beiden Städte dagegen lässt sich dagegen gar nicht in ein zeitliches Maß fassen.
Schon die Straße zum Flughafen lässt Schlimmes ahnen, sind doch die Zufahrten zu Flughäfen in aller Welt stets das Aushängeschild der jeweiligen Städte. Gut, in diesem Fall ist es so, dass Privatwagen aus Sicherheitsgründen die direkte Zufahrt zum Flughafen verwehrt bleibt. Sie müssen an einem abseits gelegenen Platz warten, während allradbetriebene Pajero-Geländewagen im Pendelverkehr Passagiere vom und zum Flughafengebäude bringen. Aber der genannte Halteplatz ist völlig schutzlos den Unbilden der Witterung ausgesetzt. Mangelt es Basra etwa an Geld?
Mitnichten. Basra ist auf jeden Fall reicher als Erbil. Die Stadt sitzt nicht nur auf so gewaltigen Erdölvorkommen, dass sie mal eben locker den ganzen Rest des Irak mit durchziehen könnte, sie scheint zumindest auf den ersten Blick auch über eine stabile Sicherheitslage zu verfügen, jedenfalls bevor hinterhältige Attentate unter Benutzung von Schussschalldämpfern (denen vor allem Aktivisten zivilgesellschaftlicher Organisationen zum Opfer fallen) auch hierher überschwappten.
Warum klemmt sich also dieses Basra wie beschämt in die hinterste Ecke der dritten Klasse, während Erbil offen in der ersten herumkutschiert? Die spektakulären Korruptionsskandale in Wirtschaft, Verwaltung und Politik, die gelegentlich ans Tageslicht kommen, lassen sich in Basra auch im Stadtbild ablesen. Man könnte Seiten füllen, um die Dysfunktionalität der öffentlichen Versorgungseinrichtungen oder die weiterhin brachliegende Infrastruktur zu beschreiben: holprige Straßen voller Schlaglöcher, Müllberge allerorten.
Selbst der Fluss bleibt hiervon nicht verschont, der Schatt al-Arab ist von Schiffsschrott übersät. Unbefestigte Schotterpisten müssen als Straßen und Gassen herhalten, insbesondere in der Altstadt, die noch mehr leidet als andere Stadtteile. Hier zerfällt mehrere Jahrhunderte altes, wertvolles Kulturgut: Das Holz der traditionellen Altstadthäuser mit ihren Vorbauten, die vor Hitze, Sonne und neugierigen Blicken gleichermaßen Schutz boten, ist wurmzerfressen, die Fensterscheiben sind eingeschlagen, die Dächer löchrig und die Türen krumm und schief. Die kleinen Rinnsale und Kanäle, für die Basra so berühmt war, gleichen heutzutage stinkenden Kloaken.
Wenn es überhaupt noch einen erfreulichen Anblick in Basra gibt, dann höchstens den der Jugend der Stadt bei einem nächtlichen Spaziergang entlang der Corniche, dieser Jugend, die sich trotz der rasant zunehmenden offiziellen Verbote ihre Lebenslust und ihr nächtliches Vergnügen nicht nehmen lässt. Bis in die siebziger Jahre hinein war Basra, das „Venedig des Orients“, eine moderne Stadt mit gepflasterten Straßen, gepflegten Bürgersteigen, alten Häusern, die im Stil an den des Bauhaus erinnerten, munter fließenden Frischwasserbächen und Kanälen, Ausflugsbooten auf dem Schatt al-Arab, Familien und anderen Ausflüglern auf der Sindbad-Insel.
Vor lauter möglichen Ehrentiteln, die die Stadt allesamt verdient gehabt hätte, kam man ganz durcheinander: Basra, die Stadt des Hafens und der Seeleute aus aller Welt, Basra, die Dattelpalme des Irak, Basra mit seiner von Nachtclubs und Kinos gesäumten Hauptstraße.
Eine Stunde und zehn Minuten dauerte der Flug von Erbil nach Basra, doch der Rückflug schien mir um ein Vielfaches länger, und als das Flugzeug endlich landete, atmete ich auf und freute mich, überhaupt noch am Leben zu sein, denn ich fühlte mich wie zurück von einer Reise in eine längst vergangene Zeit.
Aus dem Arabischen von Nicola Abbas
■ Najem Wali, irakischer Schriftsteller, lebt in Berlin. Er veröffentlicht seine Romane im Hanser Verlag, München
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