: Chillen im Antiatlas
Blühende Mandelbäume und Arganien säumen den Weg durch die Berge im Süden Marokkos mit seinen Lehmbauten. Und während in Städten wie Agadir über Pressefreiheit diskutiert wird, scheint dort die Moderne irgendwie ins Stocken geraten zu sein. Eine Reise von Agadir durch den Antiatlas
Von EDITH KRESTA
In Tiznit, einem kleinen Ort im Antiatlas, kommen Touristen normalerweise auf der Durchfahrt vorbei. Jetzt zur Mandelblüte schwärmen sie von der Touristenhochburg Agadir busweise aus in die nahe gelegenen Berge. Auch wir, eine Gruppe von neun Reisenden auf einer fünftägigen Fahrt durch den Antiatlas, halten in Tiznit zum Essen. Tajine mit Huhn, Mandeln und Backpflaumen – das ist üblich. Mir schmeckt es immer. Von Agadir kommend, haben wir im Nationalpark Massa, wo die ersten Blumen am Ufer des Flusses wachsen, Sonne getankt, Frühlingsluft geschnuppert und die Wucht des Atlantiks bewundert. Herr Kleebaum, der Senior unserer Gruppe, der als Einziger respektvoll bei seinem Familiennamen genannt wird, hat mir ausführlich die Vorzüge seiner Digitalkamera erklärt. Sie baumelt schussbereit um seinen Hals.
In Tinznit ist die Moderne schon in den Sechzigerjahren eingezogen, wie alte Reklameschilder von Omo oder den beliebten und einzigen Käseeckchen „La vache qui rit“ beweisen. Dann ist sie irgendwie ins Stocken geraten. Auf jeden Fall hat es niemand für nötig empfunden, die alten Reklameschilder durch Neue auszuwechseln. Auch das Leben auf der Straße hat sich kaum modernisiert. Selbst wenn die Stadt stark expandiert und die vielen Neubauten am Stadtrand ihren Charakter verändern. Verschleierte Frauen, in braune Burnusse gehüllte Männergestalten, die von der Form immer gleichen Babuschen (Schlappen) – Tiznits Alltag ist traditionell. Der silberne Berberschmuck, den mir ein Händler lautstark als einzigartig anpreist, wiederholt sich in Stil und Design an jeder Ecke. Vielleicht aus Traditionsbewusstsein. Sicherlich aber, weil die vorwiegend jüdischen Juweliere ausgewandert sind. Der Gewerbezweig stagniert.
Auch das Angebot der Souks ist gleich geblieben: Zwischen Gemüse- und duftenden Gewürzständen, Dingen für den alltäglichen Gebrauch wie grünen Plastikschüsseln und Besen aus Palmenblättern, hängen bunte Dschelabas, handgewebte Teppiche, große Tücher, die allenfalls in der Farbe eine neue Saison einläuten, und aus grobem Leder gefertigte Taschen, die man heute schon mal als flotten Rucksack findet. Diese neu gestalteten Stücke sind rar. Ein Zugeständnis an die Touristen. Dem Leben wie dem Kunsthandwerk fehlen Impulse, auch wenn Handymasten und durchbrausende Jeeps neusten Typs der Moderne Tribut zollen. Frau Birgit amüsiert sich über die „chillenden Männer“, manchmal sind es auch Frauen, die am Straßenrand zusammenhocken. Ein Bild, das uns die ganze Fahrt über begleiten wird.
Marokko, sagt unser Reiseleiter Abdulhaker, stehe mit einem Fuß in der Moderne, mit dem anderen in der Tradition. Diese Tradition präsentiert sich gerade im Süden. Orientfeeling. Oberflächlich betrachtet, gibt es kaum einen Unterschied zu vor dreißig Jahren, als ich Marokko das erste Mal besuchte. Damals war ich fasziniert von der anderen Kultur, die befremdend und anregend erschien, die archaische, zumindest biblische Bilder von Landschaften und Menschen wachrief. Heute nehme ich die in der Tat malerischen Märkte, den anderen Lebensrhythmus als gesellschaftliche Stagnation wahr. Die Faszination ist verblichen. Der Hauch von Orient atmet vor allem Armut und Vergessensein. Ich verstehe immer mehr die Perspektive der Einheimischen, die, wenn man nach einem Markt fragt, nicht den bei Touristen beliebten traditionellen bunten Souk, sondern die neue Einkaufspassage am Stadtrand empfehlen. Aus Schamgefühl.
„Marokko, sagt man, ist das Land der Gegensätze, ein Einfallstor nach Afrika und ein Fenster nach Europa, ruhig daliegend zwischen Mittelmeer und Atlantik, eine Region extremer Klimata, sehr trocken und sehr feucht, sehr heißt und sehr kalt“, schreibt der in Frankreich lebende marokkanische Schriftsteller Tahar Ben Jalloun. „Marokko ist ein komplexes Ganzes voller Widersprüche.“ Nun ist es auf Reisen für die meisten gerade der Widerspruch zwischen gestern und heute, der anzieht, begeistert, beflügelt. Vorausgesetzt, man findet auch im abgelegensten Bergdorf von gestern ein warmes Hotel zum Übernachten für heute. Frau Simone friert beim Gang durch Tiznit. Ich auch. Scherzhaft fragt sie Abdulhaker, ob er mit seinem Handy nicht im Hotel anrufen könne, um die Zimmer in Tafrout, unserem nächsten Stopp, vorheizen zu lassen. In den Bergen ist es noch kalt.
Ein anderer Widerspruch beschäftigt dieser Tage die Zeitungen Marokkos. Der Widerspruch zwischen Orient und Okzident, der sich im Streit um die Karikaturen des Propheten zeigt. In Rabat wird demonstriert. Während die meisten Medien Marokkos den Standpunkt der Arabischen Liga teilen, dieser Konflikt habe nichts mit Pressefreiheit zu tun, und überall Kolloquien zu diesem Thema abgehalten werden, schreibt die sozialistische marokkanische Liberation in einem Kommentar, was für eine Armutszeugnis es für die arabische Welt sei, dass die arabischen Diktaturen, die noch nie etwas von Demokratie gehört haben, diesen Konflikt funktionalisieren und die Massen aufhetzen. So bestätige man die negativen Bilder, die der Westen von der arabischen Welt hat. Ein solcher Kommentar spricht auf jeden Fall für die Meinungsfreiheit in Marokko. „Die Protestbewegung ist inzwischen eine Karikatur der Karikatur“, sagt mir auch der marokkanische Mediziner an der Bar des Touristenhotel Les Amandiers in Tafrout. Eine selten offene Meinung.
Das Hotel liegt auf einem Hügel oberhalb von Tafrout, unserer nächsten Station auf dem Weg von Tiznit in den Antiatlas. Es ist von hohen Granitbergen und -felsen umgeben. Im Abendlicht wird die Landschaft in warmes rosa Licht getaucht. Ein Naturspektakel! Das stattliche Hotel hat Patina angesetzt, und die Heizlüftung ist bei null Grad nur schwer in Gang zu bringen. Frau Simone friert schon wieder. Ich auch.
Tafrout ist ein unspektakulärerer Marktflecken der Berber. Es gibt einen Schafsmarkt, einen Mittwochsmarkt, eine Tankstelle, eine Post, eine Teleboutique, mehrere Hotels, Restaurants und Cafés. In der Umgebung von Tafrout kann man tagelang wandern und bergsteigen. Man sieht hier großartige Granitfelsformationen, die durch Winderosion und Hitze entstanden sind. Eine archaische, einsame Landschaft.
Vom Hotel führt eine Fußwanderung über das Dorf Tazka zu den blauen Felsen. Der belgische Maler Jean Verame hat diese in der Landschaft herumliegenden, riesigen Gesteinsbrocken in den 80er-Jahren mit 20 Tonnen Farbe bemalt. Heute sind sie verblasst, nichtsdestotrotz eine Sensation. Noch besser gefällt unserer Reisegruppe die Berberin mit ihrem Kind, die am Wegesrand ihr Zelt aufgeschlagen hat und Ziegen hütet. Sie zeigt bereitwillig das karge Zelt und ihr Baby. Fotostopp. Frau Christine sammelt Trinkgeld. Mit dem Nebenjob als Model hat die Berberin heute wesentlich mehr verdient als ihr Ehemann, der im nahe gelegenen Steinbruch ackert. Gelebte Folklore fürs Fotoalbum – ich fühle mich unwohl.
Viele Häuser in den umliegenden Dörfern sind verlassen und verfallen. Andere sind neu hinzugekommen, von Migranten, die in den Städten Marokkos oder in Frankreich gearbeitet haben und nun als Rentner in ihre alte Heimat zurückkehren. Selbst diese neuen Häuser leuchten in kräftigem Rosarot. Die Fenster und Türen sind in einer Kontrastfarbe abgesetzt, meist Blau, Weiß oder Gelb. Das Dorf Oumesnat im Ammelntal in der Nähe von Tafrout ist in den Berg gebaut. Jenseits des Flusses Ammeln, der zur Zeit der Schneeschmelze oder bei Regen Wasser führt, ist es verlassen. Auf der anderen Seite des Flusses, näher bei der Verbindungsstraße, wurden neue Häuser gebaut.
Das „Maison traditionell“ auf der verlassenen Seite des Dorfes wird schon von weitem angekündigt. Es wird von einem Familienclan gemanagt. Reisegruppe nach Reisegruppe zwängt sich durch die engen Räume des alten Lehmhauses. Mustafa Aharas, der gut aussehende Sohn der Familie, lädt uns anschließend zum Tee auf die klassischen Sitzkissen im Salon. Und er singt zur Laute von der Jagd auf die Gazelle. Nicht nur Frau Birgit ist begeistert von „dem schönen Berber“ und dem „Chillen im Ammelntal“. Der rehäugige Beau beflügelt von nun an die Fantasie unserer Gruppe.
Wir fahren weiter nach Taroudant in der Soussebene. In Ighram, einem Ort abseits der touristischen Touren, machen wir „Gesundheitspause“. Herr Florian, wie Herr Kleebaum sehr mit der Kamera beschäftigt, sucht immer das touristisch Unverfälschte. Hier ist es: In Ighram ist heute Berbermarkt. Hier ist nichts touristisch aufgehübscht. Der Ort wirkt abweisend. Herr Florian plädiert normalerweise für einheimische Restaurants. In Ighram sieht auch er, welch Segen die touristische Infrastruktur sein kann. Wir pinkeln lieber in freier Natur.
Es wird deutlich wärmer. Vorbei an der jetzt im Frühjahr grünen Landschaft mit gelben Osterwiesen und Arganienbäumen. Arganien sind nur in diesem Teil Marokkos zu finden. Sie werden auch Ziegenbäume genannt. Weil sich in den Baumkronen ständig Ziegen aufhalten, die auch bei der Herstellung des teuren Arganienöls helfen. Sie lieben das Fruchtfleisch, das sich nur schwer vom Stein löst, während sie den unverdaulichen Kern wieder ausscheiden. Also lässt man die Ziegen die Arganienfrüchte fressen. Die Frauen sammeln dann die getrockneten Ziegenköttel ein, aus denen die Kerne herausgewaschen werden. Das Innere der Kerne wird geröstet und zu Öl verarbeitet.
Vor allem in den 90er-Jahren entstanden hier im Süden Marokkos Frauenkooperativen. Man findet sie überall. Drei Probleme sollten damit angegangen werden: die Verödung der Arganienwirtschaft; die zunehmende Landflucht, denn nur Frauen und Kinder bleiben hier, während die Männer anderswo arbeiten; und die hohe Analphabetenrate unter Frauen. In den Kooperativen erhalten die Frauen neben Arbeit auch Unterricht in Lesen und Schreiben. Mit Erfolg. Frau Birgit befragt unseren Reiseleiter zum Verhältnis zwischen Mann und Frau in Marokko. Abdulhaker holt weit aus und erklärt dieses Verhältnis umständlich aus einem moderaten Islamverständnis. Ich frage mich, was er eigentlich rechtfertigen will.
Taroudant, die ehemalige Provinzhauptstadt des Souss, ist ein belebter Ort mit einer großen Lehmmauer um die Stadt, einem überdachten Souk, einem Hauptplatz mit Läden und Cafés. Heute ist Freitag, und die meisten Geschäfte haben geschlossen. Wir fahren weiter in den Hohen Atlas nach Immouzer. Ein Wanderparadies. Der Guide des Hotels Les Cascades zeigt mir stolz sein Gästebuch: Begeisterte Wanderer aus ganz Europa danken ihm mit blumigen Widmungen für die schönen Tage. Für Tagesausflügler aus Agadir ist Immouzer vor allem wegen seiner Wasserfälle attraktiv. Dort reiht sich Stand an Stand. Mich nervt das penetrante Geschäftsgebaren. Ein Spießroutenlauf. Herrn Kleebaum gelingt es den Felsensprung ins Wasser, eine Verdienstquelle junger Männer, haarscharf aufzunehmen.
Nach der traditionellen Bergwelt ist Agadir eine Hochburg der Moderne. Die Stadt, die nach dem schweren Erdbeben von 1960 völlig zerstört war, wurde neu aufgebaut und ist eine austauschbare Touristendestination am Meer. Latifa Baqa, Sozialwissenschaftlerin und Autorin zweier Erzählbände, lebt hier mit ihrem Mann und zwei Kindern. Sie war 2004 einen Monat Stadtschreiberin in Berlin. Ich treffe sie im neuen Luxushotel Palais des Roses. Ein ausladender orientalischer Traum, gebaut mit saudischem Geld. Trotzdem erinnert das riesige Luxushotel mit seinen langen, kahlen Galerien irgendwie an Alcatraz. Die Saudis lieben es groß, und sie lieben Agadir und die größere Freizügigkeit Marokkos. „Aber mit ihrem Geld und ihrem Einfluss verbreiten sie auch manche konservative Vorstellung ihres wahhabitischen Islams“, sagt Latifa. Die Soziologin arbeitet ehrenamtlich in einem Haus für allein stehende Mütter. „Sie bekommen Unterkunft, Kinderbetreuung und eine Arbeit. Das läuft alles auf der Ebene von Initiativen“, erzählt sie. Auch wenn um sie herum immer mehr Frauen zum Schleier greifen, trägt Latifa Jeans und Lederjacke. Das sei nicht immer leicht, gesteht sie: „Da wird man schon schief angeschaut. Religion ist wieder angesagt in Marokko, gerade bei jungen Marokkanerinnen mit guter Schulbildung.“ Fortschritt durch Frömmigkeit lautet auch die Devise der Regierung. Mit der Regierung des neuen Königs würden die Frauen zum ersten Mal wahrgenommen, weiß Latifa zu schätzen. Ein Beweis sei die Reform des Familienrechts. Erstmals würde Diskriminierung ebenso bestraft wie sexuelle Belästigung. So versuche man im immer noch polygamen Marokko, den Frauen mehr Rechte zu geben und die Bürgerrechte zu stärken. Latifa ist eine engagierte Frau, eine Schülerin der auch in Europa bekannten Soziologin Fatima Mernissi. Für sie ist ganz klar: „Es gibt noch viel zu tun. Wir haben 60 Prozent Analphabetismus unter Frauen. Der Schlüssel zur Entwicklung unserer Gesellschaft liegt bei den Frauen.“ Bei Frauen wie ihr.
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