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„Ich mach hier doch nicht den Kirchhof“

Interview Stefan Reinecke und Bascha Mika

taz: Herr Lauterbach, Politiker und Journalisten haben in der Bevölkerung einen ganz miesen Ruf …

Karl Lauterbach: … ich bin aber auch Mediziner und Wissenschaftler. Damit hebe ich den Vertrauensdurchschnitt am Tisch doch beträchtlich.

Sie sind seit Oktober SPD-Bundestagabgeordneter. Das schlechte Image hat Sie nicht abgeschreckt?

Der schlechte Ruf ist begründet. Hier spiegeln sich Defizite der politischen Tagesarbeit wider.

Welche denn?

Politiker reden ihre eigene Profession schlecht. Sie distanzieren sich von ihrem Beruf und tun so, als wären sie gar keine Politiker oder ganz untypische. Kein Wunder, dass das dem Ruf schadet.

Woher diese negative Haltung?

Haben sie in Wahrheit ja gar nicht. Die meisten sind im Geheimen sogar stolz auf den Job. Aber nach außen stellen sie es als Qual dar. Völliger Unsinn. Ein Politiker kann viel gestalten, hat ordentliche Arbeitsbedingungen und verdient im Bundestag auch sehr gut. Kurzum: ein faszinierender Beruf, in dem man die Gesellschaft verändern darf und auch noch Geld dafür bekommt.

Was für ein Loblied. Deckt sich das mit Ihren Erfahrungen als Neuling?

Der Parlamentsalltag ist sehr bürokratisch organisiert: Sitzungen, Formales, Personalfragen. Die wirklich wichtigen Diskussionen – in welche Richtung soll sich diese Gesellschaft entwickeln? Wie geht es weiter mit unserem Gesundheits- und Pflegesystem, mit der Rente? – dieser große politische Diskurs findet nicht statt. Außer am Rande in privaten Gesprächen.

Es überrascht Sie doch nicht etwa, dass Politik kleinteilige Kärnerarbeit ist? Was wäre denn die Alternative?

Die großen Debatten mit der handwerklichen Umsetzung von Gesetzen zu verbinden.

Woran hapert es?

Wenn es nach dem Willen der Regierung geht, soll das Parlament die vorbereiteten Gesetze nur noch schnell und reibungslos umsetzen. Um den Preis, dass der politische Grundsatzdiskurs nicht mehr im Parlament stattfindet.

Auch nicht in der Partei?

In der SPD gibt es viel zu wenig Diskussion über Inhalte. In meinem Wahlkreis versuche ich das zu beheben. Wo sonst soll man darüber reden, ob wir Kombilöhne brauchen oder welche Rentenreform? Solche Debatten gibt es an der Basis kaum. Ich habe versucht, sie zu reanimieren.

Sind die mangelnden Grundsatzdebatten ein Ergebnis von sieben Jahren Schröder?

Kann ich nicht beurteilen, weil ich zehn Jahre in den USA gelebt habe. Was ich weiß ist, dass die SPD-Basis links von der Regierung steht und kritisch auf sie und die Fraktion schaut. Aber diese Kritik ist weder organisiert noch gut artikuliert.

Was hindert die Genossen?

Die angeblichen Sachzwänge. Es heißt dann immer, linke Visionen seien zwar wünschenswert, aber in Anbetracht der demografischen Herausforderung, der Globalisierung und der ökonomischen Notwendigkeiten leider nicht durchsetzbar. Wir müssen heraus aus dieser Zwangsjacke …

Wie soll die Linke das anstellen?

Indem sie konkrete ökonomische Vorschläge macht. Solch allgemeine Fragen wie: Ist der Keynesianismus richtig? oder: Brauchen wir mehr Nachfrage? bringen nicht viel. Wir müssen zeigen, dass der Beitragssatz in der Krankenversicherung sinken kann, wenn sich auch die Privatversicherten an der Versorgung der Einkommensschwachen, der Arbeitslosen, der Sozialhilfeempfänger, der Geringstverdiener beteiligen. Weil das nicht so ist, sind die Lohnnebenkosten höher, als sie sein müssen.

Viele Linke halten die Diskussion um die Lohnnebenkosten für eine vorgeschobene Debatte.

Oskar Lafontaine kann die Lohnnebenkosten hundertmal unwichtig finden – das Publikum braucht nur auf seine Lohnabrechnung und die Abzüge zu schauen, um zu wissen, dass das nicht stimmt. Außerdem gibt es linke Vorschläge zur Begrenzung.

Es gibt Alternativen – ist das Ihr Credo?

Ja, das zeigen die skandinavischen Länder. Dort gibt es die stärkere Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme durch Steuern, mehr Ausgaben für die frühkindliche und schulische Bildung. Das sind alles Umverteilungsmaßnahmen von oben nach unten. Hier aber scheint es nur die Pseudowahl zwischen Umverteilung und Reformen zu geben.

Das propagiert doch auch Ihre Partei seit Jahren unermüdlich.

Stimmt, dieses Vorurteil gibt es auch in der SPD. Aber eigentlich kommt es aus dem konservativen Lager: Entweder man sei modern und für Sozialabbau und habe somit Verstand. Oder man sei für Umverteilung, habe vielleicht Herz, aber keinen Verstand.

Wenn Grundsatzdebatten in den Parteien nicht stattfinden – wofür werden sie überhaupt gebraucht?

Um Personal für die politische Elite zu rekrutieren. Allerdings sind die Parteien in ihrem derzeitigen Zustand unattraktiv für wirklich kreative, gut ausgebildete Leute. Je länger das so bleibt, umso schlechter wird das Personal.

Kein erfreulicher Befund.

Nein. Das System ist in eine Schieflage geraten.

Sie haben kürzlich eine Rentenstudie veröffentlicht. Das Ergebnis: Ärmere sterben früher als Vermögende und zahlen insofern zu viel ins Rentensystem ein. Damit sind Sie in Ihrer Partei erst mal auf Grundeis gelaufen.

Dass die Lebenserwartung in Deutschland so stark vom Einkommen abhängt wie in den USA, ist wirklich erschreckend. Einkommensstarke leben neun Jahre länger als Einkommensschwache. In skandinavischen Ländern sind es nur zwei bis vier Jahre. Ich hätte mir gewünscht, dass die Studie für mehr Aufregung sorgt. Die schlimmste Reaktion war: Das sei doch alles bekannt. Die Politiker resignieren.

Haben Sie keine Angst, dass Ihnen ein ähnliches Schicksal droht wie Paul Kirchhof, dem Steuerexperten aus Merkels Kompetenzteam? Er scheiterte auf dem Weg in die Politik.

Nein. Ich schätze Kirchhof sehr, aber er hat mit seiner Flat Tax einen unsozialen, konkreten Reformvorschlag gemacht. Der war schlecht vermittelbar – selbst in seine eigene Partei hinein. Das ist bei mir anders.

Aha …

Mein Befund der Rentenungerechtigkeit wird an der Parteibasis mit größtem Interesse wahrgenommen, weil er ein neues Argument liefert. Die gängige Annahme ist doch, dass die Lohnnebenkosten so hoch sind, weil wir zu viel von oben nach unten umverteilen. Aber bei der Rente ist es genau umgekehrt: Der Beitragssatz könnte deutlich niedriger sein, wenn wir nicht so viel Geld von den Einkommensschwachen zu den Einkommensstarken hin transferieren würden. Dieses Argument zählt. Somit bleibt mir das Kirchhof’sche Schicksal noch eine Zeit lang erspart.

Wie lange?

Ich glaube, für immer. Ich bin in der SPD verankert, im Wahlkreis und auch in der Fraktion …

wo der Vorsitzende Struck Sie kürzlich wegen eines politischen Alleingangs offen gerügt hat.

Vielleicht gefällt es manchen nicht, dass ich in der Partei und auch in der Öffentlichkeit die Diskussion mitprägen will. Aber ich mach hier doch nicht den Kirchhof.

Was hat Sie als Neuling im Parlament am meisten schockiert?

Schockiert ist zu viel gesagt. Aber überrascht haben mich drei Ratschläge, die mir altgediente Kollegen gaben.

Die wären?

Erstens: Dass man sich nicht zu einem Thema äußert, für das ein anderer zuständig ist. Ich wurde von einer SPD-Genossin scharf kritisiert – nicht etwa wegen der Meinung, die ich geäußert hatte, sondern weil es nicht mein Bereich war. Und ein CDU-Abgeordneter hat sich aufgeregt, dass ich mich in Fragen der Gesundheitsreform eingemischt habe. Denn das würden doch die Fraktionsspitze und die Regierung für uns regeln. Das hat, wohlgemerkt, ein Abgeordneter gesagt. Ein echte Selbstentmachtung.

Und der zweite Ratschlag?

Dass ich mich politisch artikulieren müsse. Das heißt: Immer schön mehrere Interpretationsmöglichkeiten offen lassen, damit man die eigene Position noch verändern kann, wenn die Parteispitze anders entscheidet. Das ist ein deprimierender Ratschlag.

Noch mehr Grund zur Depression?

Ja, die Flügel in der Fraktion. Es gibt die Netzwerker, die Seeheimer und die parlamentarische Linke. Bei der Besetzung von wichtigen Positionen in der Fraktion werden die Konflikte dieser Gruppen mit einer Härte ausgetragen, die ich mir in der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner wünschen würde.

Sind Sie deshalb bei der Wahl zum gesundheitspolitischen Sprecher der Fraktion gescheitert?

Ich bin nicht gescheitert, ich bitte Sie. Ich habe es knapp nicht bekommen. Dafür bin ich jetzt Berichterstatter für die Finanzreformen. Insofern bin ich gut bedient.

Eine Niederlage schönzureden haben Sie ja immerhin schon gelernt.

Von nichts kommt nichts.

Wenn das Parlament so bürokratisch und inhaltsleer funktioniert – woher nehmen Sie die Hoffnung, doch noch vernünftige Politik zu machen?

Man muss analysieren, wo die Probleme liegen. Das Parlament hat zu wenig Gewicht gegenüber der Regierung. Hinzu kommt der Einfluss der Lobbys. In der frühen Phase, wo Gesetze gemacht werden, müssten die Grundsatzdebatten stattfinden. Weil sie fehlen, füllen Lobbygruppen mit ihren Positionen das Vakuum.

Geben Sie ein Beispiel.

Die Zweiklassenmedizin. Aus ethischen Gründen lehne ich sie ab. Bei Gesundheit und Bildung dürfen Einkommensunterschiede keine Rolle spielen. Das muss nicht jeder so sehen, aber wir müssen darüber sprechen. Stattdessen tun wir so, als hätten wir keine Zweiklassenmedizin. Wir verdrängen die Diskussion, und die Lobbygruppen machen Vorschläge, mit denen das Ausmaß der Zweiklassenmedizin bestimmt wird.

Hat der einzelne Politiker im Geflecht von Parteien, Parlament, Medien und Lobbygruppen überhaupt noch Handlungsspielraum?

Ich glaube schon. Wenn man geschickt ist, kann man sehr viel Aufmerksamkeit bekommen.

Wenn man Krawall schlägt?

Nein, das muss nicht sein. Man kann auch durch inhaltliche Vorschläge auf sich aufmerksam machen.

Sie können sich über mangelnde mediale Aufmerksamkeit jedenfalls nicht beklagen …

Tu ich auch nicht. Aber ich will nicht mit Streit provozieren, sondern mit Inhalten. Traurig ist, dass die inhaltliche Debatte sehr oft mit einer Personendiskussion verknüpft wird. Wenn ich beklage, dass die Armen in Deutschland deutlich früher sterben als die Reichen und unser Rentensystem dies nicht berücksichtigt, dann fragen viele Medien: Ist das eine Kritik an Müntefering? Ein absurder Gedanke.

Aber Ihre Studie macht Münteferings Vorstoß zur Rente mit 67 nicht gerade einleuchtender.

Nein, der Befund ist für Müntefering nicht hilfreich. Aber wenn nur gefragt wird „Ist das gegen Müntefering oder für Platzeck?“, verwandelt sich die inhaltliche Diskussion in einen Personen- und Machtdiskurs.

Wissen Sie eigentlich, wie Ihre Kollegen im Parlament über Sie denken?

Ich habe im Parlament viele Freunde.

Sie fühlen sich nicht als Exot …?

Nein, überhaupt nicht.

und nicht als Nervensäge, die man gefälligst mal bremsen muss?

Weiß ich nicht. Ich jedenfalls lege größten Wert auf einen fairen Umgang miteinander. Ich hoffe als jemand akzeptiert zu werden, der eine linke, progressive Vision von der Gesellschaft hat und der dafür kämpft, ohne dass ich anderen was wegnehmen möchte.

Warum interessieren Sie sich so für Gerechtigkeit?

Das hat mit meiner Biografie zu tun. Ich gehöre zu den wenigen Professoren, die aus dem Arbeitermilieu stammen und habe die Nachteile unseres Bildungssystem für diese Schicht selbst erlebt. Aspekte sozialer Gerechtigkeit haben mich später bei der Erforschung von Krankheitsursachen fasziniert. Dazu kam das Interesse an politischer Philosophie, vor allem an John Rawls Gleichheitstheorie.

Ihnen geht es also um Gerechtigkeit, Fairness und um die Sache. Eigensucht und Karrierestreben spielen keine Rolle?

Meinen Aufstiegswillen habe ich doch mit der Kandidatur um das Amt des gesundheitspolitischen Sprechers schon gezeigt. Wer seine Visionen durchsetzen will, muss auch um Positionen kämpfen. Das ist doch klar.

Ach übrigens: Was war der dritte Rat Ihrer Parlamentskollegen?

Ich soll mich vor den Medien in Acht nehmen.

Interessant.

Da wird einem das Wort im Munde herum gedreht.

Wir werden uns bemühen.

Ich habe nichts anderes erwartet.

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