: Kontrollierte Urteile
Auch in der Medizin gibt es verbindliche Standards. Wer sich an die nicht hält, muss Schadensersatz leisten
taz: Kann ein Arzt machen, was er will?
Prof. Dr. Dieter Hart: Er muss sich orientieren an dem, was Standard guter Behandlung ist.
Wer legt den fest?
Etwa eine der ärztlichen Leitlinien für Diagnose, Therapie, Rehabilitation oder Pflege – sofern es sich um eine hochwertige handelt, also eine, die den vorhanden Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis und ärztlichen Erfahrung verarbeitet und außerdem unter den Ärzten beziehungsweise in der Pflege akzeptiert ist.
Was riskiert ein Arzt, der einen solchen Standard nicht beachtet?
Wenn ihm dann ein Behandlungsfehler unterläuft, riskiert er eine Schadensersatzklage und möglicherweise ein Strafverfahren wegen Körperverletzung.
Was sagen die Ärzte dazu?
Die empfinden die Leitlinien zum Teil heute noch als Gängelei und Bürokratie. Aber das sind sie gerade nicht. Sie sind ein Instrument der Fehlervermeidung.
Aber kein Patient ist wie der andere.
Selbstverständlich kann man auch von hochwertigen Leitlinien abweichen, wenn die Erkrankung oder der Patient das erfordern. Nur: Man sollte dann dokumentieren, warum man davon abweicht.
Was für Ärzte gilt, müsste auch für Gutachter gelten, die sie beurteilen, etwa in Arzthaftungsprozessen. Welche Rolle spielen dabei die Leitlinien?
Sowohl bei den Sachverständigen der Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen wie bei den gerichtlichen Sachverständigen werden die Leitlinien bisher sehr selten verwendet. Das hat eine Umfrage von uns ergeben. Ich bedauere das sehr. Denn die Leitlinien gewährleisten natürlich eine gewisse Rationalität des Gutachterurteils. Das ist dann kein in gewisser Weise willkürliches Urteil mehr, sondern ein kontrolliertes, das auf der Basis des Standes der Erkenntnisse getroffen wird. Das ist ansonsten nicht immer gewährleistet.
Wäre es nicht Pflicht der Gerichte, die Beachtung der Leitlinien vorzuschreiben?
Doch. Diese Position wird inzwischen auch von Richtern des Bundesgerichtshofs vertreten. Sachverständige müssen hochwertige Leitlinien zur Grundlage ihrer Beurteilung machen.
Und wenn sie es nicht tun?
Dann machen sie sich eines berufsrechtlichen Verstoßes gegen die Regeln guter Gutachten-Erstellung schuldig. Sie können unter Umständen haftungsrechtlich in Anspruch genommen werden. Das ist durchaus ein Druckmittel.
Interview: Armin Simon
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