: Geschmackloses Gas
Der Künstler Santiago Sierra polarisiert in der Synagoge Stommeln. Mit Autoabgasen will er der Banalisierung des Holocaust entgegen treten
AUS PULHEIMKATJA BEHRENS
Wären in einer Missionskirche in Ruanda wohl ähnlich viele Besucher gekommen, um sich von Macheten und Kalaschnikows bedrohen zu lassen? Eine provokante und ziemlich hilflose rhetorische Frage angesichts der Warteschlange vor der Pulheimer Synagoge am Sonntag. Ich sollte mir wohl möglichst rasch eine Meinung bilden über ein Ereignis, das schon im Vorfeld kein ästhetisches, sondern vielmehr ein politisches war. Die Synagoge in Stommeln wird seit 1991 alljährlich von Weltstar-Künstlern heimgesucht, die eingeladen sind, das Andenken an die Schrecken des Holocaust in eine überzeugende Form zu bringen oder ein geeignetes Konzept zu ersinnen, damit umzugehen. Der spanische Künstler Santiago Sierra (39) hat die prestigeträchtige Einladung der Stadtverwaltung Pulheim angenommen, mit einer Arbeit in der Synagoge „das Gedenken an die unzähligen Juden in Ehren zu halten“, die im 20. Jahrhundert ermordet wurden. Dass sie umgebracht worden sind, „um ihnen ihren Besitz zu rauben“, wie der Künstler in seinem Vorwort zur Ausstellung schreibt, ist hier vermutlich eine strategische Verkürzung. Sierra bemüht sich offenbar, das wird schon nach den wenigen Sätzen deutlich, den ambitionierten Kampf gegen Staat und Kapitalismus, den er mit seinen künstlerischen Aktionen, etwa mit Arbeitslosen, angetreten ist, in die Geschichte hinein zu verlängern.
Sein Projekt beschreibt der Künstler als „eine Arbeit gegen die Banalisierung der Erinnerung an den Holocaust, über das chronische und instrumentalisierte Schuldgefühl, über die Armen und die Armseligen. Vor allem aber will „245 Kubikmeter“ eine Arbeit über den industrialisierten und institutionalisierten Tod sein. Prompt kam die Kritik des Zentralrats der Juden in Deutschland – die Diskussion um die richtige Form des Gedenkens wird natürlich weiter geführt.
Mehrere schwarze Schläuche leiten die Abgase von sechs parkenden Autos in die Synagoge. Ihr tödlicher Kohlenmonoxydgehalt, so ist zu erfahren, löst schon nach kurzer Zeit Schwindel und Bewusstlosigkeit aus, kann binnen kurzer Zeit zum Tod führen. Entscheidet sich der Besucher nun hineinzugehen, werden einige Sicherheitsvorkehrungen ihn hoffentlich davor bewahren, Schaden zu nehmen. Aber: „Der Besuch der Synagoge erfolgt auf eigene Gefahr.“ Santiago Sierra wird an einem normalen Arbeitstag auf einem Spaziergang durch Mexico City wohl eine ähnliche Menge Autoabgase einatmen. Bevor ich überhaupt hereingelassen werde (nämlich erst am nächsten Sonntag), weiß ich, dass es ein Abenteuer ist, Erlebniscamp und Geisterbahn. Traue ich mich tatsächlich? Kann ich mir, als empathisch begabter Mensch, das Grauen nicht auch einfach vorstellen, wie ich es schon seit meiner Schulzeit tun muss? Brauche ich ein derart inszeniertes Erlebnis, um den Schrecken zu lernen – abgefedert und choreographiert von der Berufsfeuerwehr und städtischen Animateuren?
Die kunstsinnigen und gedächtnishungrigen Pilger stehen vor dem Tor des schmalen Durchgangs in kleinen Gruppen beisammen, reden leise miteinander, schauen umher, lesen die aushängenden Texte. Sie warten darauf, in dem ehemaligen Bethaus eine Ahnung davon zu bekommen, was es heißt, gleich sterben zu müssen, ohne dass man es weiß. Die Aufseher und Türsteher versuchen mit ernster Miene bei der Sache zu bleiben, um nicht von der ganzen Organisation zu sehr in Anspruch genommen zu werden. Sie haben einen Job zu erfüllen und werden dafür bezahlt, dass alles ordnungsgemäß von Statten geht. Sind sie deshalb aber gleich schon die Repräsentanten und Stellvertreter der Handlanger von damals? Meine Paranoia wächst. Längst schon ist die Kritik am professionellen Gedenken und an der formalisierten Betroffenheitskultur unserer Gesellschaft selbst ein wunderbares Klischee, ebenso wie das des provokanten Künstlers, welches Sierra hier bedient. Was also letztlich vermutlich im Gedächtnis bleiben wird von der Aktion in Pulheim, das ist Santiago Sierra, der Künstler. Und das etwas mulmige Gefühl, dass das Material dieser Kunst, das giftige Gas, geschmacklos ist.
Besichtigung nur: Sonntags 14:00 bis 17:00 UhrInfos: 02238-808188
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen