: Zwei Stunden dauert die Fahrt zum Großmarkt
ALLTAG He Bingmei verkauft Mädchenkleidung auf einem Straßenmarkt im Pekinger Stadtteil Shunyi
VON JUTTA LIETSCH
He Bingmei schließt die Wohnungstür leise hinter sich. Es ist früh am Morgen, Viertel nach vier. Draußen ist es noch dunkel, gegenüber brennt in einem Fenster Licht. Noch liegt die Wohnsiedlung mit ihren fünfstöckigen Häuserblocks in tiefster Ruhe, nur aus den Bäumen tönt der Gesang von Zikaden. Zwanzig Minuten läuft Frau He durch die leeren Straßen. An der Bushaltestelle der Linie 915, die sie vom Pekinger Vorort Shunyi in den Süden der Hauptstadt bringen soll, wartet schon eine Kollegin. Sie nicken einander zu, gesprächig ist niemand um diese Zeit.
He ist 33 Jahre alt. Sie verkauft im überdachten Straßenmarkt gegenüber der Haltestelle Mädchenkleidung. So früh wie heute steht sie in der Regel ein- bis zweimal in der Woche auf, um zum Kleidergroßmarkt zu fahren. „Anfangs ist es mir schwergefallen“, sagt sie, „aber ich habe mich daran gewöhnt.“
Der Traum vom Eigenheim
Sie trägt eine rosafarbene Bluse zur schwarzen Hose, in der braunen Schultertasche steckt das Geld für den Einkauf. Für 600 bis 700 Yuan (rund 60 bis 70 Euro) will sie heute neue Ware aussuchen.
Im vergangenen Jahr, als die Wirtschaft wegen der Olympischen Spiele brummte und von Krise noch nicht die Rede war, hatte sie es bequemer. Für die Fahrten zum Großmarkt mietete sie sich mit fünf oder sechs anderen Händlerinnen einen kleinen Lieferwagen. Jetzt gehen die Geschäfte langsamer. „Alle sparen“, sagt sie, „ich auch.“
Also ab in den Bus. Die Fahrt kostet nur 50 Cents hin und zurück. Um diese Zeit sind noch Sitze frei. Der Bus rollt durch die Straßen von Shunyi, in dem rund 730.000 Einwohnern leben. Überall wachsen Neubauten in die Höhe. „Hier kostet der Quadratmeter 7.000 Yuan“, sagt sie. Das sind rund 700 Euro pro Quadratmeter. Wie in China üblich, ist damit nur der Rohbau bezahlt. Die Einrichtung von Badezimmer und Küche, die Türen und der Bodenbelag kommen noch dazu.
He träumt von einer eigenen Wohnung hier im Nordosten von Peking. Im Internet schaut sie regelmäßig nach Angeboten. „Hätten wir nur schon vor vier Jahren zugeschlagen, als wir hergezogen sind“, seufzt sie. Damals gab es gute Appartements für die Hälfte von dem, was sie heute kosten. Viele haben sich mit Immobilien eine goldene Nase verdient. Aber dafür hätten Frau He und ihr Mann einen großen Kredit aufnehmen müssen. „Das haben wir uns nicht getraut.“
Das Leben genießen
„Mir würde es nichts ausmachen, jeden Tag billig zu essen, Teigfladen mit etwas Gemüse“, sagt He, „und eigentlich sollte es reichen, nur alle paar Jahre nach Hause zu fahren. Dann könnten wir die Fahrkarten sparen.“
Nach Hause, das heißt für sie Liuzhou, eine Stadt 3.500 Kilometer entfernt im Südwesten. Von dort aus hat sich die Familie im Herbst 2004 nach Peking aufgemacht. Ihr Mann, der Englischlehrer Ma Xi, denkt allerdings anders: „Er findet, wir sollen das Leben genießen und ruhig was für Unternehmungen mit unserem Sohn ausgeben“, berichtet sie. Besuche bei den Eltern zweimal im Jahr gehören für ihn dazu. „Meinem Mann ist es egal, dass wir nur zur Miete wohnen“, sagt He.
Vor ein paar Tagen hat er sich den achtjährigen Ma Yue geschnappt, der gerade Ferien hat, und ist mit ihm an die Küste gefahren. Das kostet, aber: „Die beiden schwimmen so gern.“ Sie ist froh, dass Vater und Sohn sich so gut verstehen. Außerdem hat die Familie vor einiger Zeit in der Heimatstadt Liuzhou eine kleine Wohnung günstig gekauft, die sie vermietet. He: „Im Notfall können wir da immer wieder hin.“
Es wird schnell hell, die Straßen beleben sich, im Bus wird es eng. Zweimal muss He umsteigen, bis sie nach zwei Stunden Fahrt um kurz vor halb sieben am „Rote-Brücke-Großmarkt für Bekleidung“ ankommt.
Funkelnde Ohrringe
He eilt zielstrebig in den hinteren Teil des Gebäudes: „Vorne sind die Waren teurer“, sagt sie. Drinnen preisen Händlerinnen T-Shirts und Jeans an. Es sind überwiegend Frauen, die hier seit vier Uhr morgens arbeiten. Viele sind todschick. Es ist gerade Mode, sich im Stil koreanischer oder japanischer Püppchen aufzutakeln: weiß geschminkt, mit unendlich langen künstlichen Wimpern um die geschwärzten Augenlider, dazu toupierte Rattenschwanzfrisuren, funkelnde Ohrringe und schimmernde Schmuckbrillen.
Die Verkaufsgespräche sind sachlich, niemand verschwendet Zeit. He weiß genau, was sie will. Sie braucht nur eine gute Stunde, um mehrere Etagen voller Kinder- und Erwachsenenkleidung zu durchforsten. Bei jedem Kauf lässt sie sich eine Visitenkarte der Händlerin geben und die Warenbezeichnung präzise darauf notieren. Die fehlerhafte Kinderhose der vergangenen Woche wird anstandslos umgetauscht.
Sie füllt ihre Ausbeute in zwei schwarze Plastiksäcke – unter anderem sind dabei drei Kleider zu je 25 Yuan; zwei T-Shirts zu je 13 Yuan; 18 einfarbige Shorts zu je 15 Yuan sowie vier zweifarbige Shorts für 17 Yuan das Stück.
Maissuppe zum Frühstück
In der Selbstbedienungskantine im 7. Stock legt He eine kurze Frühstückspause ein. Über einer Schüssel Maissuppe zählt sie ihre Ausgaben zusammen: „698 Yuan.“ Das sind rund 70 Euro.
Auf jedes Stück wird sie beim Verkauf bis zu 1 Euro aufschlagen. So verdient sie rund 200 Euro im Monat. „Meine Kunden sind nicht reich“, fügt sie noch hinzu, „ich kann keine höheren Preise nehmen.“
Es ist halb neun Uhr geworden – Zeit, nach Shunyi zurückzukehren. Bis 18 Uhr wird He heute noch an ihrem Stand stehen, wie fast jeden Tag, auch am Wochenende. Sie beklagt sich nicht. „Kein Problem“, sagt sie, „ich habe mich daran gewöhnt.“
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