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Im Meer, nicht im Trüben fischen

NORDEN Wie Politik bei den Leuten im Alltag ankommt – eine Reise in alle Himmelsrichtungen. Erste Station

Schicht um Schicht enthüllt er sein Leben: Seemann, Heirat, Kind. Ob Seefahrerehen halten? „Nein.“ Seine nicht Ein anderer, der Fische verkauft, „Dorsch und Scholle, jahreszeitenbedingt“, will nichts sagen

AUS KAPPELN AN DER SCHLEI WALTRAUD SCHWAB (TEXT), FRANZISKA F. SCHOLZ (ILLU)

Von Süderbrarup nach Flensburg fährt kein Zug mehr. „Unfall mit Personenschaden“, sagt der Schaffner über Lautsprecher. „Da hat einer Feierabend gemacht“, sagt Sebastian – „Sebastian reicht“. Er sitzt am Bahnhof von Süderbrarup und wartet auf den Bus nach Kappeln an der Schlei, oben im Norden. Selbstmordrate (im Jahr 2011) in Schleswig-Holstein: 370.

Der Bus nach Kappeln braucht 18 Minuten. Mit Wartezeit 40. Lang genug für Sebastian, vier Zigaretten zu rauchen und sein Leben zu erzählen. Aus Bayern sei er, Landkreis Tirschenreuth, 300 Meter zur tschechischen Grenze. „In Bayern wollen alle Kapitän werden“, sagt er. Und: „Weil ich aus Bayern bin, können Sie mit mir reden. Friesen brauchen länger. Wie wollen Sie die über das Politische fragen?“ Darum geht es: Wie das Politische ins Leben kommt in so einer Kleinstadt im Norden, im Wahlkreis 1. Sebastian versteht es. Er war bei der Marine, Kappeln, das war ein Marinestützpunkt. „Und dann wurde der zugemacht. Dreitausend Leute so weg.“

Vier Jahre Bundesmarine und vier Jahre Frachtschifffahrt hat Sebastian gemacht. Gerade sei er dreißig geworden. „Ich habe die Welt gesehen.“ Was das heißt? „Valparaiso, Schanghai, Yokohama, Vietnam, Asien, Amerika, Schwarzafrika war auch dabei.“ Nur das mit dem Sehen der Welt stimmt nicht ganz. Bei der Bundeswehr, da hätte man Hafenliegezeiten, „Zypern, Malta“, da konnte er sich was anschauen. Bei der Containerschifffahrt dagegen sei Hafenzeit tote Zeit. Um den untersten Container aus einem Schiff zu verladen, sind 90 Sekunden eingetaktet. Er war auf Capesize-Frachtern. 14.000 Container stark. So groß, dass sie nicht mehr durch den Suezkanal, den Panamakanal passen. Sie müssen an den Kaps vorbei, „Kap Horn, Kap der Guten Hoffnung.“

Und jetzt also Kappeln an der Schlei? „Ja, schön“, sagt er – seine Narbe an der Schläfe, die Lachfalten um die Augen bewegen sich, beim Gehen zieht er das linke Bein nach. Schicht um Schicht enthüllt er sein Leben: Seemann, Heirat, Kind. Ob Seefahrerehen halten? „Nein.“ Seine nicht. Nachts sei er in Frankfurt gelandet, mit dem Auto nach Hause. Sie macht die Tür auf, in Unterwäsche, sagt, „du kommst ungelegen“. Er wieder ins Auto und bumm, der Unfall. Seither kann er nicht mehr zur See fahren. Also ist die Frau schuld? Zögernd sagt er „nein“, sagt: „das Meer“. Aber jetzt ginge es wieder. Mit der Umschulung, der Arbeit bei den Piraten, (er sei ihr Archivar, aber politisch neutral,) der neuen Freundin in Kappeln, dem Möwengeschrei. Er selbst wohne in Ellenberg, das ist auf der anderen Seite der Schlei. Ellenberg, da sehen Sie die Politik, sagt er.

Kommen

Von der Ellenberger Seite aus ist Kappeln schön. Unten das Wasser der Schlei, ein Fjord ist es, darüber eine Schicht Segelboote, Fischkutter, Yachten, die mit ihren Masten ein filigranes Muster über die Hafenstraße und die dahinter aufragenden alten Speicher, Bürgerhäuser, Hotels, die Milchfabrik – ehemals Nestlé – mit ihren Metalltanks, die Seefahrerkirche legen. Darübergeschichtet die Wolken. Eine Brücke verbindet die beiden Stadtteile. 15 Minuten vor jeder Stunde trennt sie sie auch. Dann wird die Fahrbahn hochgeklappt, damit die Schiffe durchkönnen. Eine mächtige Straßenwand, die sich langsam senkrecht in die Luft streckt. Touristen staunen, Einheimische sagen: „Mist“ und „zu spät“, schalten Autos ab und alles, was antreibt, bis die hochgeklappte Straße wieder unten ist und sie weiterfahren können.

Sebastian hat recht. Mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, sie zu fragen, wo der Schuh drückt, das ist, als rede man mit der Wand. „Der Schuh drückt am Zeh“, antwortet einer, der ans Fahrrad gelehnt am Hafen steht und übers Wasser schaut. Und?

Ein weiterer, der Fische im Laden der „Küstenfischer Nord e. G.“ verkauft, „Dorsch und Scholle, jahreszeitenbedingt“, will auch nichts sagen. Nur dass die Regierung das Geld nicht den anderen geben soll. Welchen anderen? Schulterzucken. Neben dem Laden hängt ein Transparent: „Grün, Blau und Rot sind des Fischers Tod.“ Er deutet auf ein paar Fischer, die sich mit ihren Netzen beschäftigen. Die soll man fragen.

Die wollen aber nicht gefragt werden. Einer antwortet dann doch. Dass die Landesregierung – eine Koalition aus SPD, Grünen und dem SSW, der Partei der dänischen Minderheit – wegen der Schweinswale acht Monate Schonzeit dort verordnen will, wo sie fischen, vor Warnemünde, vor Sassnitz. „Wovon sollen wir leben?“ Ob keine Vorschläge gemacht wurden, wo sie stattdessen ihre Netze auswerfen können? Schon, aber da wollen sie nicht hin, weil vor Warnemünde, vor Sassnitz seien die Fischgründe gut. Und die paar Schweinswale, die ins Netz gehen, pah. Wie viele denn? „Vielleicht fünf“, meint einer, nach einer Pause, „die ganze Küste lang.“ Im Monat? Schweigen. Im Jahr? Er nickt. Fast wie Reklame dieses Gespräch, Werbung für Flensburger Pils. Die Männer haben die Frager an der Angel. Allerdings nicht ganz, sonst würde der Fischer nicht doch noch sagen: „Und die Dänen mit ihren hundert Meter langen Netzen, die stoppt keiner.“ Ihre seien 30 Meter lang. Mit zwei Kuttern fahren sie aus. Je zwei Familien leben von so einem Kutter. Und sonst politisch? Nichts. Doch, noch was: dass die Regierung zu viel Geld „den anderen“ gebe. Welchen? Schulterzucken. Ob sie wählen gehen? „Nein, da sind wir auf See.“

Wie viele Schweinswale es noch an der Ostseeküste gibt, sei unklar, sagt Dagmar Struß vom Naturschutzbund. Manche Zählungen gehen von 300 Exemplaren aus. Man experimentiere mit Netzen, die Klicklaute aussenden, die für die Wale ein Zeichen für Gefahr seien – bisher erfolglos.

Struß sitzt mit fünf weiteren Umweltschützern im Garten von Annemie und Norbert Dick. Die beiden sind vor zehn Jahren aus dem Ruhrgebiet nach Kappeln gezogen und haben dem Ortsverband der Grünen wieder Leben eingehaucht. Jetzt kämpfen sie im Stadtparlament auf aussichtslosem Posten. Etwa gegen Investorenprojekte auf den verlassenen Militärbasen der Marine. Das eine Projekt, Port Olpenitz, bei dem auf einer Landzunge im Meer tausend Wohnungen und Luxushäuser entstehen sollten, ist schon pleite. Nun wird an einem neuen Investorenprojekt auf anderem ehemaligem Militärgelände gearbeitet, den „Schleiterrassen“, einer noblen Wohnsiedlung direkt am Fjord. Auf Gelände, das sich die Natur mittlerweile zurückerobert hat. Das wollen die Grünen so nicht, aber ihr Einfluss ist gering. Noch nicht mal bei der Umwidmung einer Baumwiese hinterm Kappelner Rathaus, die partout zu einem Parkplatz werden soll, haben ihre Einwände eine Chance.

Egal, die Handvoll Grünen in Dicks Garten schonen sich nicht. „Schauen Sie uns an“, sagt einer, „fast alle über fünfzig.“ Bis auf eine alle hergezogen, zwei Männer haben kinnlanges, graues Haar – wie im grünen Bilderbuch. „Aber immerhin können wir Diskussionen anstoßen“, sagt einer. „Umdenken dauert.“

Auf einer Caféterrasse an der Schlei sitzt der stellvertretende Bürgermeister Matthias Mau, CDU-Parteibuch und eine Tischlerei hat er, 85 Angestellte. Seit die Marine nicht mehr da ist, ist er einer der größten Arbeitgeber der Stadt. Mau hat eine Sehnsucht. Wonach? „Ich möchte, dass die Leute wieder wahrnehmen, dass sie in einer Nachbarschaft leben, dass es Gewinner und Verlierer gibt und dass die Gewinner eine Verantwortung haben.“ Er hat in Tansania mit dem Lions-Club eine Tischlerausbildungswerkstätte aufgebaut, ist stolz darauf, auch dass er mit Leuten aus der Behindertenwerkstatt zusammenarbeitet oder mal einem Lehrling den Führerschein gesponsert hat, damit der leichter nach Kappeln kommt. Die Bahn hat die Stadt abgehängt. Die Stadt war doch auf die Marine eingestellt. Seit sie weg ist, gehe es ihr schlechter. Er hofft, dass die Kommune wieder lebendiger wird, wenn Leute in Port Olpenitz oder auf den Schleiterrassen wohnen.

„Das bringt doch keine Arbeitsplätze“, sagen hingegen die Grünen im Garten bei den Dicks. Das werden Ferienwohnungen mit Liegeplätzen für Yachten.

Mau meint, dass die verschuldete Kommune wenig Spielraum hat. „Warum keine Wohnungen, warum kein Parkplatz?“, fragt er.

Im Foyer des Begegnungszentrum im Ellenberg auf der anderen Fjordseite, wo gerade gegrillt wird, steht Burkhard Rautenberg, sagt „Moin“. Rohrschlosser bei Bayer in Wuppertal war er, bevor er in den Norden ging und sein Leben durcheinandergeriet. In den Häuserblocks, die beschaulich wirken, fast eine Gartenstadt, leben viele Aussiedler, viele ärmere und ältere Leute, Leute wie er. Statt Touristen sind in Ellenberg Kinder auf der Straße.

Rautenberg, Frührentner, Diabetiker, dem die Krankheit schon beim Laufen zu schaffen macht, ist der Vorsitzende der Tafel. „140 Familien versorgen wir“, sagt er. Seit einem Jahr gibt es den Verein. Seither ist sein Leben wieder voll, wo es zuvor fast leer war mit Scheidung, Hartz IV und all dem, was kam. „Dass die Marine weg ist, das hat in Kappeln Risse eingeschlagen“, sagt er. Und jetzt? Jetzt ist Armut da. Er müsse den Spendern klarmachen, dass Bedürftige keine Schmarotzer sind. Wie der Staat mit den Alten umgehe, Leute, die das Land wieder aufgebaut hätten, regt ihn auf. Auch die Lohndrückerei. „In Dänemark müssen Leiharbeitern die gleichen Löhne bezahlt werden wie denen, die regulär angestellt sind.“ Er findet es schade, dass Port Olpenitz nicht klappt. „Mit einem Schlag wäre die Arbeitslosigkeit weg. Da wären doch Jobs entstanden. Hausmeister, Gärtner und so.“

Gehen

Am Kappelner Busbahnhof warten abends um fünf drei Lehrlinge und eine Frau auf den Bus nach Süderbrarup. „Ja, ein Auto“, sagt die Frau, aber selbst wenn sie es geschenkt bekäme, könnte sie’s nicht bezahlen. „Warum arbeitest du nicht mehr bei Shell?“, fragt einer. Sie: „Scheiße gebaut.“ Er: „Da möchte man dann doch nicht nachfragen.“ Jetzt mache sie Leiharbeit für 7,85 Euro die Stunde. Wenn wenigsten die Bahn noch führe. „Haste das mitbekommen, die Frau, die sich vor drei Tagen unter den Zug geworfen hat. 72 war die. Blumen gepflückt und weg“, sagt ein Lehrling. „Absichtlich?“, fragt einer. „Ja.“ „Da braucht man auch Mut zu.“ Anerkennend zieht er den Mund in die Breite, nickt.

Fast zeitgleich gibt es um diese Stunde zwei Verbindungen nach Süderbrarup. Linie 1624 direkt, Linie 1627 über die Dörfer. Sieht man bei Ihrer Tour über die Dörfer etwas von der Landschaft, die so schön sein soll? Die Antwort des Busfahrers: „Nur.“

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