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Trauerarbeit auf See

Die Bilder scheinen wie eingebrannt, seit mehr als zehn Jahren: Damals bekam Piet Morgenbrodt die Nachricht vom tödlichen Unfall seines Sohnes. Inzwischen bietet er Segeltouren für andere Eltern an, die ihre Kinder überlebt haben

Jeden Abend legen sie in einem Hafen an, damit alle das Gefühl von Land unter den Füßen haben

von Carola Ebeling

Es ist sehr laut und eng im Café „Knuth“ am Samstagvormittag in Hamburg Altona – halb elf, beste Frühstückszeit. Weiter draußen, im Norden der Stadt, wo Piet Morgenbrodt mit seiner Familie lebt, ist es ruhig und grün. Ganz selten kommt er in die Innenstadt, wundert sich, dass es so schwer ist, einen Parkplatz zu finden.

Aber auch die fast ländliche Ruhe, in der er lebt, ist nicht mehr die gleiche wie früher. Am 28. November 1995 war es für den heute 53-jährigen damit vorbei. Abends um halb sieben standen zwei Polizisten vor der Tür. „Meine Frau hatte Bratäpfel gemacht. Auch mein älterer Sohn war da. Nur Kilian fehlte noch.“ Die Polizisten fragen nach einem Foto von Kilian, nickten sich zu. Dann hören die Eltern die unfassliche Nachricht vom tödlichen Unfall ihres Sohnes. Sie nehmen seinen Rucksack entgegen. Kilian wäre bald 16 geworden.

Das Datum, die Uhrzeit, die Szene mit den Bratäpfeln, die beiden Polizisten – die Zahlen, die Bilder scheinen wie eingebrannt, seit mehr als zehn Jahren unverändert, jederzeit abrufbar; Piet Morgenbrodt spricht schnell, die Sätze sind schon lange fertig und immer noch gültig. Sie müssen die Zäsur benennen, die „Klammer meines Lebens, die sich an diesem Tag geöffnet hat, die Reset-Taste meines Lebens – alles änderte sich an diesem Tag“, sagt er. „Seither teilen ich und meine Frau alles in vorher und nachher.“

Vorher, da machte er seine Lehre: Reproduktionsfotografie. Den Beruf gibt es heute gar nicht mehr, die Technik hat ihn überholt. Vorher, das war die erfolgreiche Zeit als Graphikdesigner mit eigener Firma. Vorher war auch die Familiengründung: 1971 lernte er seine Frau kennen. Fünf Jahre später kam der erste Sohn zur Welt, 1979 dann Kilian. Alles vorher.

Nachher, das ist das „große schwarze Loch, in das wir nach der Beerdigung gefallen sind“. Nachher ist das schreckliche Gefühl, alleine dazustehen „mit diesem komischen Schicksal“. Es wird ein wenig gelindert, als das Ehepaar auf die Selbsthilfegruppe „Verwaiste Eltern“ stößt. „Die Abende dort waren wie Pfähle im Nebel – alle zwei Wochen ein Pfahl.“ Alle zwei Wochen Gespräche mit Menschen, die wie sie diese Zumutung aushalten müssen, ihre Kinder zu überleben. Er blickt auf seine Hände, die auf der Tischplatte ruhen, die Worte stocken: „Das ist doch vollkommen auf den Kopf gestellt.“

Der andere Sohn? „Der hat sich selbst geholfen.“ Der Satz kommt rasch. 30 Jahre alt ist er heute und lebt noch bei den Eltern. „Wir finden das schön“, fügt der Vater noch hinzu. Das Wörtchen „wir“ taucht selten auf. Seine Frau? Die hält Piet Morgenbrodt außen vor: Ihre Trauer sei nicht die seine und gehöre nicht in die Öffentlichkeit.

Wenn er aber vom Segeln spricht und von der Weite des Meeres, dann erhellt sich sein Gesicht, und die Hände gestikulieren. Piet Morgenbrodt segelte 1999 zum ersten Mal, mit vier weiteren Vätern, deren Kinder gestorben waren. „Wir haben miteinander geredet, wie wir niemals an Land hätten reden können.“

An Land müssen sich danach die Dinge ändern: Der Freundeskreis verändert sich, der Job als Graphikdesigner bietet keinen Sinn mehr. Piet Morgenbrodt entdeckt die Kunst für sich. Ein wichtiges emotionales Ventil sei sie für ihn – Geld bringt sie bislang nicht viel. Also bietet er zusammen mit einer Sozialpädagogin, die Erfahrung mit Trauerbegleitung hat, einwöchige Segeltörns für Menschen an, die in einer ähnlichen Lage sind wie er.

„Urlaub und Trauer ... geht das überhaupt?“, heißt es im Flyer. Piet Morgenbrodt ist überzeugt, dass das Loslassen, die Stille des Meeres es möglich machten, „die auferlegten Rollen abzulegen – die Gefühle kommen dann unkontrolliert raus“. Kontrolle ist darum wichtig: „Ich muss schon ein Auge drauf haben, wenn einer zu lange alleine an der Reling steht.“ Die Stille kann auch bedrohlich werden. Urlaub als Gratwanderung. Jeden Abend legen sie zwar in einem Hafen an, damit alle das Gefühl von Land unter den Füßen haben. „Aber die Trauer darf nicht zu frisch sein. Es muss schon eine gewisse Distanz da sein.“

Piet Morgenbrodt will seine Erfahrungen teilen, wenn möglich: helfen. Drei Touren hat er bisher gemacht, mit Paaren oder allein reisenden Frauen. Männer, die sich allein auf den Weg machen, seien die große Ausnahme. Immer geht es in warme, helle Gefilde. „Die Stimmung ist oft heiter. Die Menschen, die mitkommen, wollen leben.“

Manche schaffen das nicht, Piet Morgenbrodt aber will lebensmutig sein. Die Kunst, die Segeltouren, das gebe ihm sehr viel. Er lebe jetzt bewusster, intensiver, kreativer.

Nur: Der 28. November 1995 verlässt ihn nie. „Ich fühle mich ziemlich gezeichnet. Wie angeschossen.“ Und so ist der neu gewonnene Lebenssinn kein Trost für Piet Morgenbrodt: „Ich wäre gerne wieder doofer, wenn dafür Kilian noch da wäre.“

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