: Krieg. Sechs Meter breit
65 JAHRE FRIEDEN Horst Böttcher verbrachte den Zweiten Weltkrieg unter Wasser. An Bord der U 618. Sechseinhalb Jahrzehnte ist das schon her. Aber das Auftauchen fällt ihm schwer. Wie verändert der Krieg einen Menschen?
■ Opfer: Während des Zweiten Weltkriegs kamen zwischen 55 und 60 Millionen Menschen ums Leben – rund 39 Millionen davon in Europa und 16 Millionen in Asien. Von allen Ländern war die UdSSR mit 8,6 Millionen gefallenen Soldaten und 17 Millionen getöteten Zivilisten am stärksten betroffen. Weltweit starben rund 24 Millionen Soldaten und 25 Millionen Zivilisten.
■ „Eiserne Särge“: 30.000 von 40.000 Matrosen der deutschen Marine starben im U-Boot-Krieg. 784 der 863 deutschen U-Boote, die im Kampfeinsatz waren, gingen unter. 2.882 Handelsschiffe und 175 Kriegsschiffe wurden von deutschen U-Booten versenkt. Dabei kamen über 30.000 Menschen ums Leben.
VON ANNABELLE SEUBERT (TEXT) UND MIKE SCHMIDT (FOTOS)
Alaaaaarm!“ Luke schließen, abtauchen. Fünfzig Meter tief. Hundert Meter tief. Zweihundertsiebzig Meter tief. Wandert der Zeiger auf der Anzeige noch ein Stückchen nach rechts, zerquetscht der Wasserdruck die U 618, als wäre sie ihm lästig. An Bord des U-Boots spricht keiner. Alle lauschen. Jetzt kommt sie, die gegnerische Flotte. Jetzt hält er über uns, der Feind. Plopp. Die erste Bombe. Klack, klack, klack. Sie fällt. Zehn Sekunden. Zwölf Sekunden. Dann schlägt sie auf.
„Wenn’s unter dem Boot explodiert, ist es aus.“ Horst Böttcher kaut auf einem Keks. Er sagt das bestimmt. Weil er es weiß. Weil er 367 Tage auf der U 618 verbracht hat. Mit ihr gen Alaska, Kanada, Togo, Marokko, Portugal fuhr. Mit ihr drei Handelsschiffe und zwei Kampfflugzeuge abschoss. Mit ihr endlich dort ankam, wo er sein wollte: in der Marine. „Das war mein Traum, da war ich noch so ’n Stift!“
Der 86-Jährige deutet mit einer Hand an, wie klein er damals war. Glaubt man seiner Handbewegung, war er kaum größer als ein Fernsehtisch. Horst Böttcher sitzt auf dem grauen Sofa seiner Berliner Neubauwohnung, vor ihm die Kekspackung, neben ihm ein Holzstock. Das Gehen bereitet ihm Schwierigkeiten. Das Erinnern nicht.
65 Jahre sind es jetzt her. Dass sich Hitler am 30. April das Leben nahm. Dass Deutschland am 7. Mai kapitulierte. Dass endlich alles vorbei war, am 8. Mai um 23.01 Uhr.
65 Jahre Frieden. Klingt schön, einfach. Aber der Frieden muss auch ankommen. Ist er das? Bei Horst Böttcher? Den U-Boot-Fahrern? Seiner Generation?
65 Jahre Frieden, und Horst Böttchers Gedächtnis ähnelt noch immer einer externen Computerfestplatte. Vier Jahre Krieg hat es in sich aufgesaugt. Auf Knopfdruck öffnet es Ordner, spuckt Daten aus. März 41, eingezogen. Belgien, Grundausbildung. Hamburg, Eignungsprüfung. Flensburg, Torpedoschule. Mit 17 Torpedomechaniker. Mit 18 auf dem Atlantik.
„Nun waren wir drin. In meinem ewigen Schwarm.“ In der U 618. Gewicht unter Wasser: 865 Tonnen. Länge: 67 Meter. Breite: 6 Meter. Besatzung: 54 Mann. „Dauer unserer Fahrten: acht bis vierzehn Wochen.“ Böttcher hat die Zahlen schwarz auf weiß. Sie stehen in den Büchern, die das gesamte Regal seines Arbeitszimmers füllen. „Krieg unter Wasser“, „Die Schlacht im Atlantik“, „Verdammte See“. Sie stehen in dem blauen Album, auf dessen Einband ein Segelschiff abgebildet ist. Seinem Album. „1. Feindfahrt: 1. 9. bis 28. 10. 1942“ lautet Böttchers Notiz, die Bildunterschrift einer alten Fotografie der U 618. Ruhig liegt sie auf der Meeresoberfläche, feierlich mit Signalflaggen geschmückt, bereit zur Ausfahrt. Wenige Seiten später klebt eine Karte der europäischen Küste. 196 schwarze Punkte sind davor eingezeichnet. Jeder Punkt markiert ein gesunkenes deutsches U-Boot.
In Menschenleben ausgedrückt: 40.000 Männer schickt die Marine im Zweiten Weltkrieg unter Wasser. 10.000 kehren an Land zurück.
Der brutale Kriegsherr
Dass die sechs Jahre andauernde Seeschlacht die Rüstungsindustrie des Deutschen Reiches überfordert, ist von Anfang an klar. Erich Raeder, Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, kennt die deutsche Flottenstärke. Und er kennt die britische. Sein Kommando lautet darum: Im Kampf gegen England solle man gefälligst „mit Anstand sterben.“ Nur Raeders Nachfolger Karl Dönitz wendet brutalere Methoden an. Egal ob der Feind vor einem brennenden Boot um Hilfe ruft – „Rettung“, droht Dönitz 1942, „widerspricht den primitivsten Forderungen der Kriegführung.“ Auf diese Weise heimst er seine Titel ein. Oberbefehlshaber der Unterseeboote. Oberbefehlshaber der Kriegsmarine. Oberbefehlshaber der Wehrmacht. 1945 ernennt ihn Hitler testamentarisch zum neuen Reichspräsidenten. Zum Führer.
„Dönitz“, sagt Horst Böttcher über diesen Mann, „war unser Vater.“ Auch das sagt der Rentner bestimmt. Nicht, weil er Veteran ist. Eher, weil er sich von wenigen verstanden fühlt. Karl Dönitz war Großadmiral. Karl Dönitz hatte bereits den Ersten Weltkrieg auf einem U-Boot erlebt. Karl Dönitz verstand. Die Aggressivität und Aussichtslosigkeit. Den Alltag im Ozean. Den Galgenhumor der Männer. „An Marsch. Mt. Michel“, funkte Dönitz der U 618 zu. Die Nachricht galt einem Kollegen Böttchers. „An Marsch. Mt. Michel – U-Boot mit Sehrohr angekommen – Mutter und Kind wohlauf – Herzlichen Glückwunsch“. Böttcher hielt den Spruch in seinem Album fest, denn sein Kollege hatte einen Grund zum Feiern. „U-Boot mit Sehrohr“ bedeutete: Es ist ein Junge. Dönitz war ein Kriegsverbrecher, ein Mörder. Und dann solche Sätze?
Böttcher weiß, dass Dönitz nach dem Krieg verurteilt wurde. Aber er kann sich so schlecht lösen, von dem Kriegsherrn, von damals.
Er erzählt weiter. Nicht über Trauer. Von Feiertagen. Da backte der Koch für jeden einen Kuchen. 54 Kuchen. „In unserer Kombüse. Die war nicht größer als ’ne gewöhnliche Toilette.“ Horst Böttcher nimmt noch einen Keks. Man aß gut, erzählt er. Ganze Lkws rückten an, wenn die nächste Feindfahrt anstand. „Vollbeladen, nur mit Proviant und Munition.“ Ab und zu ging was daneben. Flogen Dinge durchs Boot. Bei Seegang. „Manchmal ging’s da 45 Grad steil runter.“ Einmal kippte ein Topf aus seiner Halterung, die heiße Suppe dem Koch über den Oberkörper. Meist sprangen die Konservendosen auf. Dann schmeckte das Hähnchen nach Diesel. „Und dann wackelten die Zähne.“ Böttcher nickt, als sei das eine logische Folge. Dabei wackelten die Zähne, weil die Männer an Skorbut erkrankten: Ihnen fehlte Vitamin C.
Feiertage gab es selten. Selten wurde an Deck geduscht. Selten gebadet. In Torpedohüllen. Waren die Torpedos abgefeuert, standen ihre Hüllen leer. Und konnten mit Wasser gefüllt werden. „Normalerweise haben wir uns aber mit einer Schüssel gewaschen. Mit Seewasser.“ Horst Böttcher faltet die Zeichnung eines U-Boots auf, den Querschnitt des Standardtypen VII C. Tippt darauf. „Im Bugraum.“ Zwischen Rohren. Oder vor den Kojen und Hängematten, in denen man schlief. Er faltet die Zeichnung zusammen. „Nach Rosen hat’s nicht gerochen.“
Nach Schweiß hat es gerochen. Aber nicht nach Angst. Sagt er. Nein, er habe nicht immer Angst gehabt. Er habe aufgepasst. „Es konnte jeden Moment passieren“, sagt Böttcher. Er hat „es“ oft erlebt. Er kennt den Ablauf: Überwasserfahrt. Brücke sichtet Gegner. Fahrzeug 360 Grad voraus. Situation erfassen: Ist es nur ein Punkt am Horizont? Ist es mehr? „Schwupp, ist er da.“ Dann: „Alarm! Alaaaaarm!“ Dann ging alles ganz schnell. „Von dem Augenblick an, in dem wir abtauchten, bis der Zeiger über die 50-Meter-Marke ging, dauerte es …“ Er hebt die Stimme. „27 Sekunden.“ Hebt den Zeigefinger. „Das war unsere Rekordzeit.“
Lähmender Schock
Böttcher hält inne. Beschreibt Erinnerungen schließlich mit Lauten. Bezeichnet die angreifende Kriegsflotte nur noch als „der Gegner“, als „er“. Pssst. Leise! Hört mal! Sch---sch---sch. Da ist er. Was macht er? Kommt er? Sch--sch--sch. Er kommt. Ist ganz dicht. Ruhe. Sch-sch-sch. Äußerste Ruhe. Zeichensprache. Schschschschsch. Jetzt fährt er seine Maschinen hoch! Jetzt hat er uns! „Dann hast du gehört, wie die Wasserbomben ins Meer einschlugen. Da zählst du in Gedanken mit, wenn die Dinger sinken.“ Von nun an, erklärt Böttcher, gab es zwei Möglichkeiten: Entweder es krachte nicht. Oder es krachte. „Und es hat gekracht.“ Sicherung draußen? Undichte Stellen? Wasser über den Knien? Manchmal reagierte nicht jeder sofort. Manchmal lähmte der Schock. „Wenn das der Nebenmann gemerkt hat, haste eine gekriegt.“ Horst Böttcher führt einen Seitenhieb in der Luft vor. „Bum.“
Bum. Auch den Zerstörer Z 27 traf es. Nördlich von Biskaya. Böttchers Boot war schnell zur Stelle. Fischte 16 Überlebende aus dem Wasser in der ersten Nacht. Fünf weitere in der zweiten. „Die waren so blass, denen sind fast die Augen rausgefallen. Die mussten wir erst mal ausziehen, trocknen, füttern wie die kleinen Kinder.“ 75 Männer an Bord der U 618. Davon 21 traumatisiert. „Und dann mussten die wieder tauchen! Die wären fast verrückt geworden!“
Der Irrsinn des Krieges ist plötzlich hier. Im Jahr 2010. In Berlin. In einem Wohnzimmer. Krieg. 6 Meter breit.
Die Atlantikschlacht, sie hat ihn noch. Aber sie hat ihn nicht verrückt gemacht hat. Horst Böttcher ist gefasst, fixiert sein Gegenüber mit festem Blick. Man fühlt sich wie ein Pingpongball, der zwischen Mitgefühl, Trauer und Wut wild umherspringt. Jetzt endlich, jetzt will man ihn fassen, fragen, warum ihn sein Trauma gefangen hält, warum er den Krieg nicht verurteilt, nicht hasst. „Man wusste, was zu tun war, wo man hingehört“, antwortet er. Er registriert den entsetzten Blick. Und verschwindet in sein Arbeitszimmer, kommt mit dem Buch „Hitler-Jugend“ zurück. Er schlägt es auf, zeigt auf Mädchen mit langen Zöpfen, die ihre Köpfe neigen. Sie lächeln einheitlich. Er deutet auf Jungen in Uniform, die strammstehen. Sie umarmen sich freundschaftlich. „Sehen die vielleicht aus, als wären die unglücklich?“
Horst Böttcher blättert in dem Buch mit den Propagandafotos, es ist irgendwann nach 1945 erschienen. Mitten im Frieden.
Böttcher selbst war in der Marine-Hitlerjugend. Einmal hat er Hitler gesehen. „Dass da jeder ‚Heil, Heil, Heil‘ gerufen hat“, Böttcher hebt die rechte Hand, „dass den Frauen vor Freude die Tränen kamen, warum war das wohl so?“ Menschen, die zu etwas gezwungen werden, reagieren anders, meint er. „Dem Volk ging es schlecht. Und jetzt kam einer, der helfen konnte.“ Horst Böttcher wendet den Blick von seinem Gegenüber nicht ab.
Und der Holocaust?
„Die dunklen Ecken, die gab es natürlich auch. Die Verbrechen, die gab es. Aber das ist eine andere Geschichte.“
Er will nicht, dass das irgendwie auch zu seiner Geschichte gehört. Das Boot ist seine Geschichte. Bum. Auch die U 618 zielte. Oft. Auf Norweger. Getroffen. Engländer. Versenkt. Andere Nationen fallen Böttcher nicht ein. Die „Empire Mercy“ fällt ihm ein. Weil sie unterging. Weil ihr vierter Offizier überlebte. Mister Gus Button. „Der wollte wissen, wem er die Schweinerei zu verdanken hatte.“ Zurück in Großbritannien, dreißig Jahre später, stieß Button auf den Verband deutscher U-Boot-Fahrer. Den Verband, dem auch Böttcher seit 1987 angehört. Dessen Vizepräsident er einmal war. „Als Button mich das erste Mal sah, fiel er mir um den Hals.“ Da ließ er Gus Button bei sich wohnen und zeigte ihm Berlin.
Danach. Danach war vieles vergessen. Die Nachwirkungen. Die Schuld. Wie das mit den Albträumen war, dem Gewissen? Er überlegt. Sein Mund zuckt kurz. „Einmal, da hatte ich eine böse Nacht.“ Im Krankenhaus, als er es am Herzen hatte. Das ganze Bett hat er durcheinandergewühlt. „Hat man mir gesagt“, fügt Horst Böttcher an, und dann: „Das war aber das einzige Mal.“
Die Jahre verschwimmen
Er habe seine Erlebnisse sehr wohl verarbeitet. Weil er mit seiner Frau darüber sprach? „Nein, da gab es nichts mehr zu besprechen.“ Mit seinem Sohn? „Nein, der war ja ’ne andere Zeit.“ Er habe das mit sich selbst ausgemacht. Mit der Zeit haben die Erinnerungen ihre scharfen Kanten verloren.
Die Jahre in Frieden haben gar keine Kanten. Sie waren irgendwie gleich. Sie verschwimmen. 1945 fing Böttcher im Bergbau an, im Ruhrgebiet, in 950 Meter Tiefe. „Das war ja nun keine Welt für mich da unten.“
Nein?
1948 wurde er Feuerwehrmann in Berlin. Blieb es bis zur Pension. Ein Beruf, wo „Alarm!“ gerufen wird. Einer mit Risiko und Mannschaftsgefühl. Einer, für den man schnell sein muss, darauf warten muss, dass etwas passiert.
Abends kam er zu seiner Familie nach Hause. Diese Zeit mochte Böttcher. Er fühlte sich wertvoll, sagt er, sicher. Bedeutete ihm das Frieden? Horst Böttcher verstummt. „Frieden“, sagt er. „Schwer zu sagen.“ Zum Frieden fällt ihm nichts ein. So aus dem Stegreif. Und wenn er sich Zeit lässt? Horst Böttcher spricht jetzt langsam, schwerfällig. „Es gab keine Gefahr mehr“, sagt er. „Wenn ich nach draußen ging, musste ich nicht mehr damit rechnen, dass mich einer abknallt.“
1980 starb Böttchers Frau. „Darmdurchbruch“, erklärt er. „Wie das halt manchmal so ist.“ Ein Schwarzweißfoto über seinem Bett erinnert an sie. Horst Böttcher spricht nicht viel von ihr. Auch nicht von Uschi, seiner Lebensgefährtin. Oder dem Englischkurs, den er mit sechzig begonnen hat. Er hebt die Schultern. Winkt ab. Springt zurück. Zu damals, zum Wasser.
Böttcher freut sich auf den Sommer in Berlin. Weil er dann wieder an einer Dampferfahrt auf dem Tegeler See teilnehmen kann, er wohnt ja direkt um die Ecke. „Ich könnte mich stundenlang an Deck aufhalten und aufs Wasser schauen.“
Damals, im März 1944, wurde Horst Böttcher abkommandiert, weil er zum Maatenlehrgang befördert wurde. Er musste das Boot verlassen. „Schweren Herzens“, sagt er.
Damals, im August 1944, sank die U 618. Totalverlust.
■ Annabelle Seubert, 24, freie Journalistin in Berlin, wollte ursprünglich eine Reportage über ein U-Boot schreiben. Dann traf sie Horst Böttcher
■ Mike Schmidt, 45, freier Fotojournalist in Berlin. Verschlang mit 14 das russische Propagandabuch „Das Geheimnis zweier Ozeane“
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