: Zu schön, um wieder wegzugehn?
STÄDTEVERGLEICH Schwerin ist langweilig, voller Rentner – Greifswald ist quirlig, voller Räder. Wie unterscheidet sich eine Uni-Stadt von einer Kleinstadt ohne staatliche Hochschule?
■ Kaffeerösterei Fuchs, Am Markt: Brüht den besten Kaffee der Stadt, sagt Martin Sancassani. Backt einen leckeren, supersüßen Schokoladenkuchen, sagt die Autorin.
■ Zum Freischütz, Am Ziegenmarkt: Kneipe mit Holztischen und Kerzen, an der kein Abiturient in Schwerin vorbeikommt und in die Exilschweriner gern zurückkehren. Für den kleinen Hunger gibt es Baguette und Chili con Carne.
■ Der Schweriner Fernsehturm, Hamburger Allee 72–74: Bietet einen hervorragenden Ausblick über die Seenlandschaft und einen authentischen Geruch nach DDR. Der Eintritt kostet 1,50 Euro, und im Restaurant gibt es Würzfleisch und Soljanka.
VON DÖRTHE NATH
Über den Tischen im Garten des Café Koeppen weht eine leichte Alkoholfahne. Es ist Mittag an einem sonnigen Wochenende in Greifswald, und wer am Frühstücksbuffet vorbei in den Hinterhof tritt, der grüßt. Sonnenbrille ist Pflicht, die Augen der Partygänger, die sich erst vor wenigen Stunden voneinander verabschiedet haben, sind müde. Im 170 Kilometer entfernten Schwerin leuchtet derweil das Schloss in der Sonne. Die goldene Kuppel glitzert, und die makellose Fassade passt zu den beigefarbenen Jacken der schlendernden Damen auf der gepflegten Uferpromenade. „Kaffee und Kuchen könnte man jetzt gut vertragen“, sagt eine von ihnen.
Momentaufnahmen aus zwei Städten in Mecklenburg-Vorpommern, die auf den ersten Blick zeigen: Schwerin ist langweilig und voller Rentner – Greifswald ist jung und quirlig. Klingt logisch, denn Greifswald hat eine Uni und Schwerin nicht. Aber was findet man hinter den Kulissen? Wie unterscheidet sich die Uni-Stadt von der Kleinstadt ohne staatliche Hochschule?
Das Zählen von Fahrrädern bringt eine Antwort. Die sind nämlich in Greifswald allgegenwärtig. Mountainbikes lehnen an der plakatierten Scheibe der rot gekachelten Mensa, klapprige Damenräder scheppern über das Kopfsteinpflaster des großen Marktplatzes mit den herausgeputzten hanseatischen Giebelhäusern in Rot und Hellgelb, und gleich neben dem Hauptgebäude der Uni lehnt ein Hollandrad an der braungrauen Wand des AstAgebäudes. Davor steht Björn Reichel, der beim Asta für die Gleichstellung Benachteiligter zuständig ist. Er ist Berliner, 26 Jahre alt, Jurastudent mit einer schwarzen Brille und Dreitagebart und referiert flüssig Fakten über die Stadt: „Greifswald ist Deutschlands Fahrradhauptstadt“, sagt er und zitiert damit unwissentlich eine Pressemitteilung der Stadt zu einer Studie des hiesigen geografischen Instituts. Man habe damit Münster den Rang abgelaufen, verkündete das Schreiben im Oktober stolz. Vor wenigen Wochen hat Reichel das auch bei seinen Stadttouren für die Erstsemesterstudenten erzählt, vielleicht um ihnen den neuen Ort schmackhaft zu machen. Denn wer zum Studieren nach Greifswald kommt – das sind im Moment mehr als 12.000 –, der weint erst mal. Das wird zumindest hier so zitiert.
Auch vor dem Schweriner Schloss lehnen Räder. An den Lenkern hängen Taschen mit Landkartenfenster, sie gehören zu den Ausflüglern in bunten Windjacken, die Rast machen. Nur 10 Prozent nutzen hier das Fahrrad im Alltag. Und anders als in Greifswald fährt auch keiner in der Fußgängerzone der Innenstadt, die gleich gegenüber dem Schloss beginnt. Viele Häuser sind renoviert, nur hier und da blättert der Putz von bräunlich-grauen Fassaden.
Die Suche nach dem, was Schwerin hinter der Hochglanzfassade versteckt, führt zum kleinen Marktplatz mit dem burgähnlichen alten Rathaus. In der engen Seitenstraße wabern Gitarrenriffs über das Kopfsteinpflaster. Martin Sancassani sitzt am offenen Fenster und schrammelt auf drei Saiten, die über eine Zigarrenkiste gespannt sind. In den Achtzigerjahren war er so etwas wie ein Star der zweiten Reihe. Grunwaldt und Bley hieß seine Hamburger Band, deren Video „Shout it loud“ sogar in der Musiksendung Formel Eins lief. Damals wackelte der gegelte Zweimetermann im Maßanzug mit seinen langen Beinen und trug einen Gummihandschuh auf dem Kopf. Jetzt ist er 53, hat einen kleinen Bauch, wohnt seit neun Jahren mit seiner Frau in Schwerin und baut Zigarrenkistengitarren.
„Hier ist es am frühen Abend still wie ein Furz unter der Decke, und diese Ruhe ist berückend“, sagt er und spielt den ersten Riff des mittlerweile aus Fußballstadien bekannten „Seven Nation Army“ von den White Stripes. Das zeigt er den Jugendlichen als Erstes, wenn die mit ihnen eine Gitarre gebaut haben: „Ich bring den Gören bei, wie man mit ein paar Griffen Rock ’n’ Roll spielt“, damit verdient er einen Teil seines Geldes und ist glücklich. Auch wenn er in Schwerin eine Durststrecke ohne Freunde überwinden musste, die Stadt als großes Altersheim bezeichnet und die behäbige Beamtenschaft der Landesregierung belächelt. Sein Lieblingscafé, dessen selbst gerösteten Kaffee er jedem anpreist, ist nur eine Straße weiter, und seinen Freunden in Westdeutschland bringt er Bautzener Senf und Grabower Schaumküsse mit.
In Greifswald zeigt Björn Reichel, was für ihn die Stadt ausmacht: die linksalternativen Jugend- und Kulturzentren, den Museumshafen, an dessen Ufer Gruppen mit Bierflaschen um Baumarktgrills sitzen, die Mensa, die am Wochenende zum Club wird, und all die Kneipen, die mit Happy-Hour-Angeboten Studenten locken. Alles ganz nett, und einen großen Freundeskreis hat er auch. Und trotzdem: In den fünf Jahren, in denen er hier wohnt, ist er kein Freund der Stadt geworden, wie er sagt. Björn Reichel ist schwul und die Szene klein. 390 User haben beim Internetportal Gay Romeo Greifswald als Wohnort angegeben, im Verhältnis eine ähnlich hohe Zahl wie die Einträge zu Schwerin.
„Ich nenne Greifswald immer meine kleine Homohölle“, das sagt er ganz leise und lacht. Er hat einen schwulen Stammtisch zusammengetrommelt, 15 Leute kommen da im Schnitt. An jedem 2. Freitag im Monat organisiert er eine Schwulen-und-Lesben-Party im Keller des Gasthauses Zum Alten Fritz, vor dem an diesem Nachmittag Männer mit Schärpen Bier trinken, eine Studentenverbindung hat zum Treffen mit den alten Herren geladen. Egal welcher Couleur, die Studenten machen Greifswald zur jüngsten Stadt Deutschlands. Hier fand die Gesellschaft zu Konsumforschung 2008 den größten Anteil an Haushalten von unter 29-Jährigen in Deutschland.
Der Freischütz im Schelfviertel
In Schwerin treffen sich Jugendliche mit schrägen Frisuren und bunten Stiefeln an der Siegessäule, Jungs mit engen Jeans und Sonnenbrillen sitzen mit Bierflaschen am Ufer des Pfaffenteichs, vom Stadtmarketing Schwerins Binnenalster genannt. Einen Fernsehturm gibt es auch – all das klingt, als würde Schwerin nach Größerem streben. Aber wenn man nach einer guten Kneipe fragt, dann bekommt man immer dieselbe Antwort: der Freischütz im Schelfviertel. Der Mann hinter der Theke dort trägt eine schwarze Brille, kommt aus Köln und ist: Student. Einer von etwa 700, die an privaten Fachhochschulen in Schwerin studieren. Und diesen einen hat die Stadt dauerhaft gewonnen, denn er findet es hier zu schön, um wegzugehen.
Wenn einer das verstehen kann, dann ist es Thomas Naedler. Nach seinem Geschichts- und Philosophiestudium in Berlin ist der 36-Jährige vor sechs Jahren zurückgekommen, um bei seiner Familie in der Altbauwohnung mit den abgezogenen Dielen zu wohnen und weil er die Landschaft hier so liebt. Im Freischütz tritt er einmal im Monat mit seinen Kollegen von der Lesebühne „Schmalz und Marmelade“ vor etwa 100 Zuschauern auf. Da singt er dann auch schon mal über seine Heimat: „das piefigste, triefigste, schönste und schläfrigste Dorf zwischen Kiel und Berlin“, wie es in seinem Text heißt. Wenn man etwas werden wolle, dann müsse man von hier weggehen, sagt er. Aber er singt gleichzeitig auch vom „Tausendschön“ Schwerin, dem „Traum in Grün“. Wenn er das erklärt, gerät er ins Schwärmen: „Diese Stadt hat einfach unschlagbare Vorteile: so viel Wasser, wunderbare ruhige Orte, zu denen man nur zwei Minuten braucht.“ Sieben Seen umgeben Schwerin.
Greifswald hat den Fluss Ryck und den Bodden. An dem weißen Strand dort mischen sich am späten Nachmittag Studenten und Familien, ein Jugendlicher im Thor-Steinar-Pullover trägt einen Bierträger zum Wasser. Am Hafen riecht es nach geräuchertem Fisch, die Masten der Segelboote klingeln im Wind. Marieke Erbo beißt in ein Fischbrötchen. Sie ist Pharmaziestudentin, und dies ist ihr Lieblingsort. Der Ort, der sie schnell mit Greifswald versöhnte. Sie ist eine Art Personifizierung des viel zitierten Spruchs: Als sie ihren Bescheid der Zentralen Studienplatzvergabe bekam, kamen ihr die Tränen. Jetzt, da sich die 27-Jährige auf ihren Weggang vorbereitet, wird sie ganz wehmütig.
Kommen und gehen – ein zentrales Thema in beiden Städten. In Greifswald tragen die Studenten einen Hauch von Vielfalt und Urbanität in die Stadt, aber auch ein bisschen Landschulheimatmosphäre. So groß ihre Trauer auch sein mag, wenn sie der Stadt den Rücken kehren, sie wird für Björn Reichel, Marieke Erbo und die anderen wohl eine Durchgangsstation bleiben. Was bleibt, sind wechselnde Studentengenerationen und die Meeresbrise. In Schwerin gehen schon die Abiturienten und überlassen es denjenigen weit jenseits der 30, das Stadtbild zu prägen.
■ Das Café im Koeppenhaus, Bahnhofsstraße 4: Hat eine Gartenterrasse, auf der man beim Brunch am Wochenende dem Chor der evangelischen Studentengemeinde zuhören kann.
■ Reusenhaus in Wieck: Leckere Brötchen mit selbst geräuchertem Fisch. Der Chef heißt Gurke.
■ Museumshafen: Grüne Uferwiese mit Blick auf Greifswald oder Milchkaffee auf einem der Kneipenschiffe.
Dass das junge und kreative Potenzial in ihrer Stadt fehlt, das sieht auch die Oberbürgermeisterin von Schwerin, Angelika Gramkow von der Linken. Im schwarzen Hosenanzug sitzt die Frau mit den hellblonden Haaren in ihrem Büro über den Dächern von Schwerin. Sie arbeitet emsig daran, noch mehr private Fachhochschulen anzusiedeln, denn nicht zuletzt sind Studenten nicht nur für das Flair bedeutend, sondern auch als Wirtschaftsfaktor. Greifswald kann durch die Uni seit 2005 wieder ein Bevölkerungswachstum verzeichnen, Schwerins Einwohnerzahlen sinken weiter, wenn auch weniger als in den Jahren zuvor.
Ein breitbeiniger Lenin mit einem gelben Penis
Wenn man dem Rat des Lesebühnen-Literaten Thomas Naedler folgt und den Weg am Schweriner See entlangspaziert, gelangt man nach einiger Zeit dorthin, wo die Abwanderung in Schwerin am augenfälligsten ist: zum Stadtteil Großer Dreesch, dem Plattenbauviertel. Hier heißen die Kaufhallen „Schatztruhe“ und „Kaufparadies“, und an einer Kreuzung steht etwas verloren ein Lenin aus Metall. Breitbeinig wie ein Schiffskapitän vergräbt er die Hände in seinem Mantel und schaut auf die breite Kreuzung. „Das Dekret über den Boden“ steht auf seinem Sockel. Die Erläuterungstafel, die die Stadt Schwerin dort angebracht hatte, ist verschwunden. Jemand hat Lenin einen gelben Penis auf den Mantel gesprüht.
Einige der Blöcke stehen leer, andere warten auf Sanierung. In einem unbewohnten Gebäude werden Schüler eines Schweriner Gymnasiums ein Theaterstück aufführen. Für Thomas Naedler der Beweis, dass auch hier Kreativität möglich ist. Denn – diese These teilt er mit dem Zigarrenkistengitarrenbauer Sancassani – die Guten finden sich in der kleinsten Stadt.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen